Pflichtlektüre.

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Zwei Bücher habe ich gelesen,  von denen ich euch unbedingt erzählen muss, zwei vollkommen unterschiedliche Bücher von zwei vollkommen unterschiedlichen Auoren. Und doch verwandt, irgendwie. Die ganze Woche habe ich Seiten angezeichnet und Zitate unterstrichen – aber jetzt sitze ich schon wieder im Zug und die Bücher liegen zuhause. Also zitiere ich aus dem Gedächtnis, ein Grund mehr für euch, diese Bücher selber zu lesen.

Das eine ist der „Auszug aus dem Berliner Journal“ von Max Frisch. Anfang der siebziger Jahre, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, zieht er nach Berlin, weil er dort „keine Funktion“ hat. Er denkt (unter anderem) über das Schreiben nach, den Literaturbetrieb, über Gespräche unter Schriftstellern. Besonders beeindruckt hat mich eine Szene, in der er Uwe Johnsson lobt, der die nicht einfache Aufgabe hatte, auf Frischs Manuskript „Regen“ zu reagieren. Und das in Anwesenheit beider Ehefrauen. Keine einfache Aufgabe deshalb, weil das „Manuskript misslungen“ ist und „beide das wissen“. Johnsson hat das gut gemacht, findet Frisch. (Sieben Jahre und ebenso viele Überarbeitungen später erscheint das Manuskript unter dem Titel  „Der Mensch erscheint im Holozän“).

Das zweite ist „Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrndorf, die Buchversion seines gleichnamigen Blogs, den er vom Zeitpunkt seiner Diagnose (Glioblastom) bis zu seinem Tod knapp drei Jahre später geführt hat. Diese drei Jahre,  sagt er,  waren seine glücklichsten. Er hat zwei Romane geschrieben, Fussball gespielt und am Ende seines Lebens eine Wohnung mit Aussicht bezogen. Dieses Buch ist nichts für Wegschauer und Überleser. Gnadenlos, tröstlich, kaum zu ertragen. Aber für Schriftsteller ist es unverzichtbar. Auch hier diese selbstverständliche Bereitschaft, sich der Kritik zu stellen, der eigenen, der der Freunde. Hier ist es die gestrenge Frau Passig, die eigentlich nie etwas gut findet, nicht einmal Tschick, erst recht nicht Tschick. Als posthumes Groupie bin ich versucht, sie anzufauchen: „Und was hast du denn Schönes geschrieben, bitte sehr?“ Aber Herrndorf hört auf sie, und als sie einmal etwas uneingeschränkt gut findet, wird er misstrauisch. Er zeigt uns eine Szene aus Tschick, in der Maik ein Gedicht schreibt – wunderbar, grossartig, warum gestrichen? Weil sie die Handlung verzögerte. Kill your darlings!

Ich lese diese Bücher und ich frage mich, ob ich diesen Mut auch habe, meine Zweifel ernst zu nehmen, mich in Frage zu stellen, in Frage stellen zu lassen. Die unermüdliche Bereitschaft, immer wieder von vorn zu beginnen. Und die Kraft dafür. Im Grunde ist es das, was einen Schriftsteller ausmacht: Das Wohl des Textes über das eigene zu stellen.

Nach Herrndorf mache ich eigentlich alles richtig, auch ohne Hirntumor: Ich arbeite ununterbrochen, ich gehe ziemlich regelmässig an die frische Luft und ich pflege meine Freundschaften. Und doch… Diese Woche habe ich ebenso oft aus Verzweiflung und Erschöpfung geweint, wie ich mich strahlend im Scheinwerferlicht verbeugt habe. Vier Auftritte mit den Unvollendeten, eine Premiere – die übrigens ganz toll war! Kaum zu glauben, dass das Nadine Toblers erste Regiearbeit war. Ausserdem habe ich letzte Woche mehrere Züge verpasst, Verabredungen vergessen und Abgabetermine verdrängt. Einmal war ich eine ganze Stunde zu spät unterwegs zum Theater – und merkte es nicht einmal. Um halb sieben sollte ich dort sein, also fuhr ich um 18.29 ab. Das schien mir vollkommen logisch, 18 ist schliesslich sechs Uhr, 29 Minuten eine halbe Stunde, halb sechs also, alles klar. Nichts  ahnend sass ich im Zug, bis Sibylles leicht panischer Anruf mich aus meiner Illusion riss, ausnahmsweise einmal alles im Griff zu haben. Ich schaffte es noch knapp, schlüpfte an den Zuschauern vorbei in die Garderobe, alles ging gut – aber gesund ist das nicht. Das „performers high“ nach dem Schlussapplaus fühlt sich zwar unbestritten grossartig an, aber es hält nicht hin. Unweigerlich bricht es zusammen, wenn ich allein in irgendeinem Provinzbahnhof sitze und auf meinen Anschlusszug warte. Ich komme spät nachhause, verschlafe am nächsten Morgen die Zenmeditation und meine Arbeit kommt auch nicht richtig in die Gänge. Meine eigentliche Arbeit. Das Schreiben. Mir fehlt meine Arbeit, mir fehlt die Struktur.

Gut zu wissen.

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8 Kommentare

Kommentare

  1. Irma meint

    Milena! Du sprichst aus meinem Herzen! Seit zwei Wochen ist Arbeit und Struktur von Herrendorf bei mir. So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein von Schlingensief ebenfalls. Ungalublich berührend. Beide Bücher. Wenn der Tod vorbei kommt, dann erscheinen die Zeilen intensiver… Den frischen Frisch werd ich mir ebenfalls ans Herz legen. Vielen Dank! Herzlichst, Irma.

  2. Hansruedi Tscheulin meint

    “ … mache ich eigentlich alles richtig, auch ohne Hirntumor: Ich arbeite ununterbrochen, ich gehe ziemlich regelmässig an die frische Luft und ich pflege meine Freundschaften. Und doch… Diese Woche habe ich ebenso oft aus Verzweiflung und Erschöpfung geweint“, haben Sie geschrieben, und das widerspricht sich gewissermassen. Wie kann man verzweifelt sein und dabei alles richtig machen? Oder kann man verzweifelt sein, weil man alles richtig macht? Verzweifelt sein heisst doch, dass man es nicht richtig macht oder dass man diesen Eindruck hat. Oder ist es am Ende so, dass man gar nicht alles richtig machen kann (und auch nicht will) und deshalb verzweifelt? Verzweiflung hat mit der Vorstellung (oder Einbildung) zu tun, man sei zu nichts mehr nütze, es sei alles getan und niemand mehr habe einen nötig, sodass man (ich) zum Schlusse kommen könnte, alles richtig zu machen lasse einen verzweifeln. Freundlicher Gruss.

  3. Urs Bachmann meint

    Liebe Milena. Das Buch von Max Frisch habe ich vor ca. fünf Jahren gelesen. Wolfgang Herrndorf kannte ich vorher nicht, aber das von dir empfohlene Buch will ich lesen. Danke für den Tipp. Alles Liebe. urs

    • Milena Moser meint

      @ Urs: Danke, dir auch! Das Buch von Max Frisch ist eben erst erschienen:
      http://www.books.ch/detail/ISBN-9783518423523/Frisch-Max/Aus-dem-Berliner-Journal
      und http://www.books.ch/detail/ISBN-9783871347818/Herrndorf-Wolfgang/Arbeit-und-Struktur

    • Hans Alfred Löffler meint

      und beide: „Arbeit und Strucktur“ & „Aus dem Berliner Journal“ gibts auch als eBook (bei/von) http://www.books.ch alias „Orell Füssli“ und auf meinem SmartPhone und auf meinem Tablet. Nur „Das schwarze Sofa“ von Regula Haus-Horlacher gibts nicht „elektronisch“, weder als Kindle noch als eBook. Dabei wäre das auch eine Pflichtlektüre für Schriftsteller, oder doch eher für Lehrpersonen oder für Eltern sowieso.

  4. Barbara meint

    So eine schoene montagmorgenueberraschung :-) danke liebe milena dafuer, dass du nicht nur deine wunderbar verlockende schokoladenseite mit uns teilst. Es macht mir traumschreiberling mut dranzubleiben. E schoene maentig wuensch ich dir, barbara

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