Ein ziemlich guter Tag.

Letzte Woche traf sich endlich wieder meine Schreibgruppe in Santa Fe. Ich weiss nicht, wie lange wir uns nicht gesehen haben. Das liegt nicht nur an meinem Zigeunerleben. „Ich bin ein Opfer meines Erfolgs!“, rufe ich theatralisch, Handrücken an der Stirn. Wir lachen. Wir alle haben ausgefüllte Leben, wir alle zigeunern herum. Und so haben wir alle nicht geschrieben.

Nach der Lesereise in der Schweiz und Victors Spitalaufenthalt in San Francisco hätte ich nun ja endlich Zeit. Zeit, mich Luigi zuzuwenden, der sich bereits Big Lou nennt. Und doch tue ich es erst einmal nicht. Warum? Ein neuer Teufel reitet mich: „Oh, der Tag ist so lang“, ruft er, „kein einziger Termin im Kalender! Kein Grund, nicht erst einmal in die Yogastunde zu gehen, eine Freundin zu treffen, die neue Ausstellung im Mocna oder gleich noch eine Folge „Big Little Lies“ zu sehen! Selbst wenn du erst nach dem Abendessen anfängst zu schreiben, hast du immer noch mehr Zeit dafür als du je in deinem Leben gehabt hast!“

Ha! Ich habe das „Zweite-Buch-Syndrom“! Normalerweise legt es Autoren lahm, die mit ihrem ersten, oft unter erschwerten Bedingungen, neben Brotjob und Familie geschriebenen Buch erfolgreich genug waren, um für ihr zweites Buch einen Werkbeitrag oder -Aufenthalt zu bekommen. Und da sitzen sie dann, ohne eine einen einzigen Grund, nicht zu schreiben zu können – und können genau deshalb nicht mehr. Ein bekanntes Phänomen. Das einen offenbar auch beim zwanzigsten Buch überfallen kann. Nennen wir es „den Fluch der perfekten Bedingungen“!

Die anderen werden von ihren eigenen Teufeln geplagt, aber was immer unsere Gründe waren, nicht zu schreiben, es braucht nicht mehr als einen Nachmittag, einen Krug Tee und ein Handy mit einer Gong-App, um wieder damit anzufangen.

Das war ein ziemlich guter Tag.

Am nächsten Abend ruft mich überraschend eine Bekannte aus San Francisco an, die gerade von einem Chi-Gong-Workshop in der Gegend kommt. Ich habe sie lange nicht gesehen. „Gut schaust du aus“, rufe ich und umarme sie. Stellt sich heraus, sie hat seit zwei Jahren Krebs. Und gerade eine neue Form von Chemotherapie begonnen. Sie zeigt mir Selfies, die sie mit einer eng sitzenden, höchst unbequem aussehenden aufblasbaren Haube zeigen. Sie soll verhindern, dass sie ihre Haare verliert. Sie ist guter Dinge. Ich wage nicht, nach ihrer Krankenversicherung zu fragen. Sie kommt von selber darauf zu sprechen. „Ich kann nur hoffen, dass die Behandlung im November abgeschlossen ist“, sagt sie. Solange Obamacare noch gilt. Aber… was… wenn? Sie zuckt mit den Schultern, lacht. „Dann reicht es halt nur noch für Chi Gong!“ Galgenhumor, denke ich. Im wahrsten Sinne des Wortes. Unter Trumps „repeal and replace“ würde ihr Krebs als „pre-existing condition“ gelten und sie von einer Krankenversicherung ausschliessen. De facto zum Tode verurteilen. Dieser Vorstoss wird dann zwei Tage später in hohem Bogen verworfen. Immerhin.

Auch das war ein ziemlich guter Tag.

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2 Kommentare

Kommentare

  1. patricia meint

    liebe milena, es ist tatsächlich gut, einer miesen situation oder einer schrecklichen sache, wie deine begegnung gezeigt hat, etwas gutes abzugwinnen. ich glaube das nennt man hoffnung.
    was ich heute aber schönes erlebt habe, erzähle ich dir kurz: praktisch nie nie nie schaue ich g&g weekend, aber heute eben doch. wie hat es mich gefreut, dich mit dani fohrler zu sehen. es war ein so spannendes kurzweiliges interview und es freut mich ebenfalls, dass du immer noch gleich sympathisch und authentisch klingst wie damals in aarau in der gemütlichen praliné-einpackküche.
    liebe grüsse aus der schweiz, patricia

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