Barfussschreiben.

Kürzlich hatte ich eine Krise. Ich kam einfach nicht mehr zum Schreiben. Gerade als ich in dieser beseelten Schreibphase war, in der der Roman sich fast von alleine vor meinen Augen, unter meinen Fingern entwickelte! Ausgerechnet dann meldete sich das Leben mit seiner üblichen Rüpelhaftigkeit zurück. Arzttermine und Spitalaufenthalte, Fahrten in die Notaufnahme, Nachkontrollen. Nichts Lebensbedrohendes, gottseidank – andererseits macht es genau das so schwierig. In wirklichen Notsituationen vergisst man alles andere. Da fragt man sich nicht „Gehe ich schon morgens zur Blutabnahme mit oder erst nachmittags zum Gespräch mit der Ärztin?“ Mit anderen Worten: „Kann ich irgendwo zwei Stunden am Stück für mein Schreiben herausschinden? Aber kann ich mich auch konzentrieren, wenn ich nicht genau weiss, was mit Victor läuft?“

„Seit den Anfängen des Schreibens haben Schriftsteller Probleme. Und ihr Hauptproblem lässt sich mit einem Wort beschreiben: das Leben!“, sagte William Styron in einem Interview mit der Paris Review. Er zitierte „einen Freund“, der es die „Flöhe des Lebens“ nannte: Krankheiten und Feiertage, geplatzte Wasserleitungen und Steuererklärungen, Liebeskummer, Sporttage, Reifenpannen. Was halt so anfällt. Was einen halt so anfällt und überfällt. Nichts Schlimmes. Nichts Neues. Auch nicht für mich: Schliesslich habe ich mein Schreiben immer um die Bedürfnisse meiner Familie herum arrangiert. Wie ein fliessendes Gewässer suchte es sich die Ausbuchtungen und Verästelungen in meinem Alltag, die verborgenen Hohlräume und füllte sie aus. „Ich habe echt gar nie gemerkt, dass du schreibst“, sagte einmal ein Freund zu mir. Und ich hörte das als Kompliment. Acht Jahre lang habe ich eine wöchentliche Kolumne geschrieben, während ich von recht aggressiven Lebensflöhen gebissen wurde. Warum kann ich das nicht mehr? Vielleicht, weil es nicht meine Flöhe sind?

Die Sorge um einen geliebten Menschen ist immer viel diffuser und deshalb schwieriger zu ertragen als das eigene Leiden. Das zeigt sich fast jedes Mal, in all den unterschiedlichen Wartezimmern und selbst in der Notaufnahme: Irgendwann verlangt Victor sein Skizzenheft und beginnt zu malen. Während ich nur Listen von Fragen an die medizinischen Fachkräfte in mein Notizbuch kritzeln kann.

„Warum schaffe ich es nicht mehr“, jammerte ich eines Abends vor einer Gruppe von Freunden. „Früher konnte ich es doch? Ich glaube, ich muss einfach wieder nach Santa Fe…“

„Wie sieht denn dein Alltag in Santa Fe aus?“, fragte Paula.

„Ganz simpel: Ich habe keine Pläne, keine Verpflichtungen, ich bin allein. Frühmorgens gehe ich spazieren oder ins Yoga, dann schreibe ich, so lange ich will.“ Dass diese grosse Freiheit auch nicht immer ganz ohne Herausforderungen ist, habe ich an diesem Abend nicht erzählt, ich habe es ja schon beschrieben.
„Ach so“, sagte sie. „Alles klar, dein Leben in Santa Fe ist eine Art privater Writer’s Retreat!“

Da wachte ich auf. Retreat? Das Leben ist kein Retreat, kein Werkaufenthalt! Der Retreat ist eine Kunstpause im Alltag, eine Ausnahmesituation. Schreiben findet nicht im luftleeren Raum statt. Es steht nicht im Widerspruch zu einem vollen Leben sondern ist Teil davon.

Vielleicht das grösste Kompliment, das mir als Schriftstellerin je gemacht wurde (wenn auch unabsichtlich), war: „Deinem Schreiben merkt man einfach an, dass du dein Klo selber putzt!“

In diesem Moment fand ich wieder zu mir: Es ist schon richtig so, wie ich es immer gemacht habe. Das fliessende Gewässer, das mein Schreiben ist, sucht sich nicht nur die Hohlräume, die es füllen kann, es schleift sie mit der Zeit aus. Es macht sie grösser. Ohne das Leben auszuschliessen.

„Danke, Paula“, sagte ich. „Das hab ich jetzt gebraucht!“ Und dann flog ich zurück nach Santa Fe….

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9 Kommentare

Kommentare

  1. Eva meint

    Liebe Milena (ist es eigentlich ok, wenn ich dich duze, ohne dich persönlich zu kennen, nur weil ich mich mit dir seelenverwandt fühle, um drei Wochen fast genau gleich alt bin wie du und auch immer nach Santa Fe wollte, weil ich in den 70igern den roten Seidenschal verschlungen habe?),
    eine Frage: Woher hast du eigentlich immer die wunderbaren Schwarzweiss-Fotos? (Sorry, im Schreiben bin ich ebenso Laie wie in allen weiteren Künsten, im Lesen umso mehr Geniesserin, daher gebe ich keinen Kommentar zu deinen Werken und deinen Gedanken übers Schreiben und Leben sondern geniesse sie still).
    Alles Gute, auch für Victor!

    • Milena Moser meint

      @ Eva: Aber sicher ist das OK! Und ich hoffe, du schaffst es eines Tages nach Santa Fe, also known as De-Cesco-Country… Die Bilder finde ich in den Maschen des Weltweiten Netzes und die Suche macht mir jedes Mal Spass!

  2. Eveline meint

    Liebe Milena
    Heute habe ich ein Mail erhalten, das auf deinen Newsletter hinweist. Aber ich habe das anfangs nicht gecheckt. Ich habe nur Milena gelesen, und Platz im Schreibkurs frei, und ich dachte: Ist sie wieder in der Schweiz. Wo denn? Was denn? Habe ich was verpasst? Warum verpasse ich immer die wichtigen Sachen?
    O.K. es war der Newsletter, und ich habe dann halt den Link auch noch gefunden. Gell ich bin halt aus der Generation, die nicht ganz so schnell mit diesen Sachen ist. Also, jetzt habe ich es kapiert. Du bist dort – in Santa Fe – und gibst Schreibkurse. Leider kann ich nicht rüber kommen, aber träumen davon kann ich ja trotzdem.
    Jedenfalls habe ich den neuesten Beitrag von dir gelesen, und gedacht, genau! So ist es! Man schreibt im stillen Kämmerlein und denkt, das geht ewig so weiter. Teilt sich die Zeit entsprechend ein – und Zack, kommt das Leben dazwischen. Schüttelt alles durcheinander und spuckt einem wieder aus. Andererseits, ist das irgendwie gut so, sonst würden mir wohl irgendwann die Ideen zum Schreiben ausgehen, im stillen Kämmerlein.
    Ganz liebe, wehmütige Grüsse. Ich habe einige deiner Filmchen gesehen. Das erinnert mich so an deine Kurse in Aarau. Und es tut gut, dich ab und zu sehen und zu hören.

  3. regenfrau meint

    Liebe Milena,
    du schreibst: das Leben ist kein Retreat; ja leider, sagt die eine Seite von mir, ja zum Glück die andere. Merke ich doch immer wieder, dass zuviel Ruhe, zuwenig Leben mich genau so vom schreiben abhalten können (eingelullt ins süße Nichtstun), wie zuviel um die Ohren zu haben.
    Ich wünsche dir, dass du egal ob mit oder ohne Flöhe wieder zu deinem Schreibfluß zurück findest! Lieben Gruß nach Santa Fe!

  4. Denise meint

    Oh, was für ein geniales Bild mit dem Fluss! Ich hoffe, dass es das bei mir auch immer mehr (wieder) werden kann.
    Überhaupt … dieser Text kommt grad zur richtigen Zeit.
    Wegen der Flöhe. Danke!

  5. Heide Kuhn-Winkler meint

    Danke, liebe MIlena, für diesen Post!
    So banal es klingen mag, doch genau den habe ich heute gebraucht.
    Ich bin, wieder mal, auf Wohnungssuche in Berlin. Und obwohl ich hier schon lange mein „Zweitleben“ führe, verschluckt mich die Stadt immer dann, wenn ich nicht darauf gefasst bin.
    Lange Rede… Ich schaffe es kaum, neben Maklergesptächen, Besichtigungen, Freunde treffen etc.meinen kleinen wöchentlichen Blog zu schreiben. Das klappt in meinem ersten Zuhause in der Provinz doch auch, obwohl dort das Leben so vorhersehbar (Synonyme: langweilig, träge) fließt. Oder gerade deshalb?
    Wie auch immer – DANKE für Deinen Blog und herzliche Grüße nach Santa Fe,
    Heide

    • Milena Moser meint

      @Heide: Sehr gern geschehen und beste Grüsse zurück! Wenn ich deinen Kommentar lese, denke ich allerdings auch: Vielleicht verlangen wir manchmal das Unmögliche von uns??

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