Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit.

vintage-bubble-bath-beautyIch persönlich gebe ja der Zeitumstellung die Schuld: diese eine Stunde, die mir vor – wann war es vor einem Monat? – gestohlen wurde, die fehlt mir immer noch. Und überall. Allerdings am wenigsten beim Schreiben. Das Schreiben bleibt wie immer unberührt, es gehört einfach zu meinem Leben, ich stelle seine Ansprüche nicht in Frage. Gestern haben wir im Kurs darüber diskutiert: Wann schreibt man am besten, wie lange, wie oft? Meine Antwort: Frühmorgens, eine Stunde (lieber zwei), jeden Tag. Das ist das Minimum. Raymond Chandler hat jungen Schriftstellern empfohlen, in der vorher festgelegten Schreibzeit nichts anderes zu tun als zu schreiben. Oder nicht zu schreiben. Allenfalls dürfen sie sich „vor Verzweiflung am Boden schlängeln“. Ein Bild, das mich oft rettet. Kurz bevor ich aus dem Stuhl falle, um mich auf dem Teppich zu winden, fällt mir irgendetwas ein. Immer. Der menschliche Geist langweilt sich nun mal nicht gern. Wenn ihm wirklich keine Ablenkung geboten wird, dann gibt er nach. Mit einem hörbaren Seufzer: Ok, dann halt. Schreib ich halt was.

Chandler empfahl vier Stunden, ich brauche zwei. Meinen Kursteilnehmern sagte ich: „Zwanzig Minuten sind für den Anfang genug- zwanzig Minuten pro Tag!“ Zwanzig Minuten hat jeder. Irgendwo versteckt. In zwanzig Minuten kann viel passieren. Jeden Tag von Neuem.

Eine Teilnehmerin wehrte sich gestern gegen das tägliche „bitzeli“ Schreiben. Leidenschaftlich vertrat sie ihren Anspruch auf längere, ungestörte Schreibzeiten. Auf das freie Ein- und Untertauchen in ihre Geschichte. Darauf, nicht unterbrochen zu werden, nicht von der Uhr und auch von sonst nichts. Während ich ihr zuhörte, stieg eine längst vergessene Sehnsucht wieder in mir auf. Stimmt, das wollte ich auch mal!

Meine Methode ist aus der Not entstanden, vor mehr als 26 Jahren. Damals lebte ich mit meinem älteren Sohn allein, ich schrieb unseren Lebenunterhalt mit Aufträgen zusammen, stahl mir die Zeit für meine Kurzgeschichten (die vorerst nicht veröffentlicht oder bezahlt wurden) während seines Mittagsschlafes. Sobald er die Augen geschlossen hatte, setzte ich mich an den Schreibtisch. Da ich nie wissen konnte, wie lange er schlafen würde, nutzte ich jede Minute. Ich habe nie mehr so konzentriert gearbeitet wie damals. Und auch wenn ich andere Schriftsteller beneidete, die von einem freundlichen Gott oder der Kulturförderung von allen anderen Verpflichtungen befreit sich ganz dem Schreiben hingeben können, so wusste ich auch immer ganz genau, dass dieser Druck mich beflügelte. Das tut er heute noch.

Und doch: Ungestörte Schreibzeit…. Hmmmmm…..

Die Teilnehmerin, die auf ungestörter Schreibzeit bestand, ist allerdings heute zum zweiten Kurstag nicht mehr aufgetaucht. Gestern hat sie sich nach Montauk geschrieben. Ich stelle mir vor, wie sie dort in den Dünen sitzt, den Notizblock – karierte Seiten! – auf den Knien, die Unterlippe zwischen den Zähnen, und schreibt. Sie schreibt sich die Zeit herbei, die sie zum Schreiben braucht.

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Leser-Interaktionen

3 Kommentare

Kommentare

  1. Lynn * meint

    Hoffe und denke, dass sie bestimmt noch aufgetaucht ist, wenn auch vielleicht etwas später … ;-)

    Montauk auf deinem Speicher gefunden zu haben, stellt sich im Nachhinein in mehrfacher Hinsicht als ein Glückstreffer heraus. Beim Googlen habe ich übrigens gesehen, dass es einerseits den Dok-Film aus dem Jahr 2010 gibt und andrerseits Volker Schlöndorff seit Anfang Jahr an einer Literaturverfilmung dreht.

    Am 11./12. Mai 1974 reiste Max Frisch nach Montauk. Seine «Wiederentdeckung» bzw. das Herbeischreiben dieses «Sehnsuchtsortes» fand also fast auf den Tag genau 40 Jahre nach diesem Ereignis statt. Zufall? Ich denke, solche Dinge sind bestimmt und fallen einem dann zu, wenn man dazu bereit ist. Danke, liebe Milena, das du das ermöglicht hast!

    • Milena Moser meint

      @ Lynn: Die Autorin ist tatsächlich wieder in der Schreibstube aufgetaucht, mit windzerzaustem Haar und Sand in den Schuhen – und einer unglaubwürdigen Erklärung auf den Lippen, irgendwas mit einem Wecker, der nicht geklingelt hatte…. Wie gesagt, es gibt keine Zufälle -ich bin gespannt auf die Fortsetzung!

    • Hans Alfred Löffler meint

      @ Milena – und Du hattest sie natürlich sofort mit „Hello Mimosa“ begrüsst, und umarmt. Und wer fegt jetzt den Sand aus der Schreibstube?
      Novita kann nicht kommen, sie bekommt Dienstag 6.5.2014 um 14 Uhr ein Baby welches im Schneidersitz noch in ihr hockt, ein Mädchen. Und nachher muss sie noch in der Klinik bleiben für eine Woche. Aber am 1. September käme sie wieder zur Arbeit, ob ich auch käme – wieder einmal … ;-)

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