Blühender Irrsinn

Beten hilft. Es gibt Studien darüber. Patienten, für die gebetet wird – religionsunabhängig bien sur – werden schneller gesund als andere. Ich fand diese Studien immer ein bisschen traurig, denn nicht jeder hat eine Menge Leute, die für ihn beten, nicht jeder lebt in einem amerikanischen Film. Doch offenbar muss keine Beziehung bestehen zwischen dem Empfänger der guten Gedanken und wem immer sie für ihn denkt. Das hingegen ist tröstlich. Und wenn es einen Beweis bräuchte für diesen Trost, dann habt ihr ihn erbracht in diesen letzten Tagen. Bekannte, Unbekannte, Seelenschwester: Eure Gedanken haben mich durch dieses dunkle Virentunnel gepustet wie nichts.

Ich danke euch.

Eines Morgens wachte ich auf und roch etwas. Die kühle Luft, die zum offenen Fenster hineinströmte, war feucht und schwer, sie roch nach Regen. Der Himmel war grau. Meine linke Schulter schmerzte, ich hatte Hunger. Dass ich das alles wahrnahm, zeigte mir zuverlässig, wie so manches Mal davor: Es ist vorbei. Mit der Wahrnehmung erwachen die Lebensgeister. Der Vorhang wird weggezogen, der Schalter umgelegt, von schwarz-weiss auf multicolor. Ich machte mir einen Kaffee, dachte dabei an eine Romanfigur namens Ariane: wie schön, jede Tasse Kaffee bewusst zu geniessen. Ich trat auf den Balkon hinaus und sah zwischen den grauen Bodenplatten und den gefriergetrockneten Gräsern eine bunte Nische des Übermuts.

Seither rase ich vom Mobility-Parkplatz zur Ikea, zum Gartencenter und wieder zurück. Ich wohne im 5. Stock. Ohne Lift. Ich habe den Balkon nicht vermessen und habe deshalb nie genug von diesen Bodendingern. Mobility. Ikea. Treppe. Repeat. Ich überhöre die Stimmen, die mich vor den Eisheiligen warnen (Eisheilige? Ein Widerspruch in sich, nicht?) und erst recht die, die besorgt kommentieren, ich gehe den Balkon mit der selben Unmässigkeit an wie mein Schreiben, wie alles andere. Statt dessen bestelle ich eine Portion Pommes frites im IKEA Restaurant und denke, ich habe noch nie etwas so Gutes gegessen. Ketchup UND Mayonnaise. Masslos.

Stundenlang knie ich draussen, spiele Tetris mit den Bodenplatten, lange mit beiden Händen in die kalte, dunkle Topferde. Themen vor denen ich mich ewig gedrückt habe, lassen sich endlich nicht nicht mehr wegschieben. Ich gebe nach. „Dann halt“, sage ich, „dann kommt halt rein.“ Und mache die Tür zum Roman – oder was immer es ist – weit auf. Wie von selber setzt sich alles zusammen – wenigstens in meinem Kopf. Von den Holzquadraten kann ich das leider nicht behaupten.

Geschrieben? Nichts. Wenn man die Kolumnen und Kurzgeschichten nicht zählt, und das tue ich nicht.

Auch Magdalena „came to a screeching halt“: Sat 200;  Sun 2,100; Mon 0; Tues 1,400.
„But I’ll go back“, sagt sie.

Ich auch.

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7 Kommentare

Kommentare

  1. Melanie meint

    Wie schön, dass die Farben wieder da sind. Die Puzzlesteine werden ein schönes Bild ergeben. Viele Freude & Kraft fürs Aufblühen.

    • Regula Haus-Horlacher meint

      Ja, das glaube ich auch! Ein schillerndes :-), leuchtendes, ganz und gar wunderbares Bild werden diese Puzzleteile ergeben!

      Ich kenne dich zwar nicht, liebe Melanie, aber dein Waldbildchen erinnert mich so sehr an meinen Ausflug nach Mainau vor genau zwei Jahren und fünf Monaten, dass ich dir den Text, den ich über diesen Ausflug geschrieben habe, nicht vorenthalten möchte. Möglicherweise magst du ihn ja lesen:
      Am 24./25. Oktober 2009 fanden in Kreuzlingen und Konstanz Literaturtage statt. Da ich kurz zuvor umgezogen war und etwas Abstand und Erholung nötig hatte, beschloss ich für dieses Wochenende an den Bodensee zu reisen.
      Am Samstag hörte ich mir bis tief in die Nacht Lesungen an. Und so entschied ich am nächsten Morgen, noch randvoll von den Texten und überrascht vom schönen Wetter – der Wetterbericht hatte Regen gemeldet –, den Sonntag auf der Insel Mainau zu verbringen.
      Als ich im Kreuzlinger Hafenbahnhof auf meinen Zug wartete, entdeckte ich mitten auf dem Perron einen Bergmolch. Was tun? Mir fehlte die Zeit, um ihn auf die andere Seite der Geleise zu bringen, auf dieser Seite hatte er aber keine Chance zu überleben: Weithin war alles asphaltiert, er würde unweigerlich vertrocknen. Da fiel mir ein, dass es auf Mainau bestimmt einen Teich für ihn gab. Ich packte ihn also vorsichtig in mein Brillenetui und nahm ihn mit. Tatsächlich fand ich auf der Insel rasch den geeigneten Teich. Der Molch hatte die Reise unbeschadet überstanden. Ich hatte immer mal wieder nach ihm gesehen und er war mir in der kurzen Zeit schon sehr ans Herz gewachsen. Nun musste ich ihn freilassen. Ich weinte ein bisschen, als er zwischen den feuchten Blättern verschwand. Zu spät sah ich die Goldfische. Fressen Goldfische Molche? Wohl nicht. Hoffte ich –
      Dann begann es zu regnen. Aber Mainau ist zauberhaft im Regen! Zauberhafter womöglich noch, als bei schönem Wetter.
      Eingangs die Sequoia–Allee. Ein Dach aus dichtem, hellgrünem Nadelwerk verwandelt das gewöhnliche Teersträsschen, auf dem man geht, in einen märchenhaften Tunnel aus dämmrigem, aber keineswegs bedrückendem Zwielicht.
      Dann die Nebelschwaden zwischen den Bäumen der „Baumsammlung“ – andere sammeln Briefmarken.
      Scheinbar nutzlos steht die grosse Sonnenuhr im Regen.
      Zähl die heitren Stunden nur! Was für ein dummer Spruch, dachte ich plötzlich. Früher war mir das nie aufgefallen.
      Ein wenig unterhalb, ausgehend von der untersten der zahlreichen, verschachtelten und mit geschmiedeten Geländern versehenen Terrassen: Die Wassertreppe.
      Schlanke Zypressen an ihren Seiten erinnern an Italien, wie man es aus Filmen kennt. Wie es aber, wenigstens stellenweise, ja tatsächlich auch ist!
      Der Weg zum anderen Ende der Treppe führt nicht direkt den Abhang hinab. Er macht einen weiten Bogen. Ich wollte sie von unten sehen. Gewiss. Und vor allem auch die ornamental angelegten Dahlienbeete. Felder muss man fast sagen, so gross kamen sie mir vor, wie sie da leuchteten in klaren Farben. Gelb. Rot. Rosa. Und violett.
      Praktisch wie ich bin und auch etwas des Regens müde, begab ich mich aber zuerst zum Schloss, das sich geradewegs in meinem Rücken befand – ich musste nur noch durch einen Rosegarten gehen …
      Und wie ich da so ging, man glaubt es nicht, aber es war tatsächlich so märchenhaft, hörte ich aus der Schlosskirche leise Musik.
      Dicklich und in einem etwas zerknitterten Talar stand die Pfarrerin auf der Schwelle. „Der Gottesdienst ist gerade vorbei“, sagte sie freundlich. „Kommen Sie ruhig herein, Sie stören nicht!“
      Ich setzte mich und hörte dem Ausgangsspiel der Orgel zu. Über mir wölbte sich wunderbar licht, die barockene Decke, vor mir stand und lag die schönste und reichste Dekoration, die man sich vorstellen kann. Töpfe mit Astern. Körbe mit Quitten. Zierkürbisse in verschiedenen Farben und Formen. Erntedank. Ich hatte es im Prospekt gelesen, das fiel mir jetzt wieder ein.
      Allmählich kamen mehr Leute herein. Gerade als ich dachte: Diese Kirche muss ein Kraftort sein!, fragte mich ein kleiner Junge: „Warum sitzt du hier? Gibt es eine Vorstellung?“ Vermutlich hatte er vorhin drüben im Schlossmuseum die Sonderausstellung über die Augsburger Puppenkiste gesehen und hoffte jetzt auf mehr. Ich setzte zu einer Erklärung an, dass man sich manchmal einfach so in eine Kirche setzen würde, zum Nachdenken, aber da war er bereits weg. Dafür kam die Pfarrerin wieder. Freundlich nickend ging sie den Mittelgang zwischen den Stuhlreihen entlang. Sie hatte sich inzwischen umgezogen. Trug ein ebenfalls etwas zerknittertes, gelbgrau kariertes Baumwollkleid.
      Und sie hatte keine Arme. Einfach keine Arme. Nichts. Nicht einmal Stummel –

      Jetzt könnte ich eigentlich nach Hause gehen, fand ich, als ich wieder in den Regen trat. Etwas sehnsüchtig dachte ich an die warme Stube daheim und an etwas zu Essen.
      Aber da erinnerte ich mich, dass ich mir vorgenommen hatte, die Wassertreppe auch noch von unten anzuschauen. Und die Dahlienfelder. Es würde mich reuen, dachte ich, wenn ich nach Hause ginge, ohne sie gesehen zu haben! Und eigentlich fror ich auch gar nicht wirklich. Ich hatte ja meine neue Jacke.
      „Bärenfell“, hatte die Verkäuferin ernsthaft gesagt, als sie die Jacke für mich in eine Plastiktasche packte. „Das können Sie jetzt dann schon brauchen, wenn es kälter wird!“
      Und ich hatte ein bisschen gelächelt. Bärenfell aus hundert Prozent Polyester.
      „Ein Traum vom irdischen Paradies“ sei diese Wassertreppe. Das steht auf einer Tafel, da wo der Weg etwa zwei Drittel unten die Treppe quert. Ein Künstler Namens Szczesny habe das unterste Drittel 2007 als Fortsetzung des oberen Teils gestaltet.
      Von hier aus hat man einen unverstellten Blick auf die Dahlien. Man ist nah genug dran, um die schon verwelkten Blüten zu sehen, die faul von den Stengeln hängen. Weit genug weg aber auch, um die nach wie vor schönen, farbig leuchtenden wahrzunehmen!

      Ja. So war das auf Mainau vor genau zwei Jahren und fünf Monaten.

    • Regula Haus-Horlacher meint

      Liebe Melanie – erst jetzt habe ich dich gefunden! So ein Blog ist der reinste Irrgarten.
      Jetzt muss ich in die Küche, die Kinder kommen.
      Liebe Grüsse
      Regula

  2. Karin meint

    Willkommen zurück in der wundervoll farbigen Welt. Heute ist hier in Kiel wundervolles Frühlingshimmel. Das 1. Mal im Hinterhof gefrühstückt und es genossen. jetzt habe ich sogar ein Netbook und kann draußen schreiben. Viel Spaß weiterhin beim Plattenverlegen und Roman(oderwasauchimmer)basteln.
    Alles Liebe Karin

  3. Bruno meint

    Werde in Kürze mit einer „guten“ Übersetzung von Patanjali beliefert und nehme mir fest vor sie zu lesen. Nicht des Fliegens Willen sondern einer tieferen Einsicht in eine spürbar wohltuende Bewegungsphilosophie wegen. Fühl dich in vielen deiner Worte verstanden auch wenn nicht alles deines literarischen Wirkens gelesen! Es ist mir ein Fest zu lesen, was mir, aus welchen Gründen auch immer, aktuell vor die Augen kommt und mich bewegt.

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