Damendramen

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Heute ist der erste Dezember. Das heisst zwei Dinge: Der national novel writing month November ist vorüber. Ich habe knapp die Hälfte der 50’000 geforderten Wörter geschrieben und die meisten haben nichts, aber auch wirklich nichts mit meinem aktuellen Projekt zu tun, meinem Reisebericht. Trotzdem bin ich Windmeilen weitergekommen, nicht nur im Schreiben. „Was ist die Wahrheit?“ war das Thema in den letzten Wochen, in Erinnerungen, Auseinandersetzungen, Recherchen, in meinem Schreiben. „Unsere Familiengeschichte gäbe einen 900-Seiter“, sagte mein Sohn gestern beim Essen. „Mindestens!“ Nur, wem gehören diese Geschichten? Den Lebenden, den Toten? Ich erzählte von meinem Urgrossvater, den ich nie gekannt habe. Die Geschichte wurde mir von meiner Mutter erzählt, immer wieder, es ist eine dieser Ankedoten, von denen jedes Familienfest lebt. Dieser Urgrossvater liess sich von meiner Urgrossmutter scheiden und begann damit eine zweifelhafte Familientradition, die sich seither in jeder Generation wiederholt hat. Nach der Scheidung verarmte er, was mit seinen Trinkgewohnheiten zusammenhängen konnte oder auch nicht. Die Urgrossmutter führte ihr hochherrschaftliches Leben fort, das nur einmal im Jahr unschön unterbrochen wurde: Wenn am Heiligabend der betrunkene Exmann an der Tür klingelte und verlangte, dass seine zwei silbernen Flachmänner, die er mit sich trug, aufgefüllt wurden. Einer mit Cognac, der andere mit Eau de Botot Mundwasser…

„Die Geschichte kenn ich aber“, sagte mein älterer Sohn, der gerade „Die Putzfraueninsel“ gelesen hat. Ich habe sie also schon verwendet – verschenkt? War es überhaupt an mir, diese Geschichte zu erzählen? Kann ich sie noch einmal erzählen?

Meine Mutter erzählt noch etwas anderes. Sie hat gerade das neue Buch von Urs Widmer gelesen. In diesen Erinnerungen gibt der Autor offenbar immer wieder freimütig zu, es könne auch alles ganz anders gewesen sein. Er habe sich überlegt, alle Details nachzuprüfen, habe er an einem Podiumsgespräch gesagt, und sich dagegen entschieden. Er habe sich auf das Erzählen konzentriert.

So, denke ich. So mache ich es auch. Irgendwie.

Der erste Dezember bedeutet noch etwas anderes: Ich schreibe diese Zeilen aus der Abflughalle. Ich verreise schon wieder. Ich folge meinen eigenen Spuren. Fortsetzung folgt!

 

 

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Leser-Interaktionen

4 Kommentare

Kommentare

  1. Hans Alfred Löffler meint

    Vielen Dank für den Link zur NZZ, welcher zum Buch von „Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums. Autobiografie“ führt. Und Du würdest es auch so machen – irgendwie …. Machst Du doch verehrte Milena, schon lange und sehr gut!

  2. MrHansAlfred Loeffler meint

    ich z.B. nage mich z.Zt. durch eine dickbuchige Liebesgeschichte mit einem gründlich recherchierten, historischem Hintergrund Band 1. und darf berichten, dass Band 3. bereits im Februar 2014 erscheinen wird. Also Milena nimm‘ Dir Zeit mit dem Erzählen und wenn Du keine nimmst, dann beginne ich einfach mit MÖCHTEGERN noch einmal oder lese das Buch HUMMELDUMM, das auch einen historischen Hintergrund hat. Und nur für den Fall wir begegnen uns nicht mehr vor dem Neu Jahr: all the besteht for you – herzlich!

  3. Trudi Clemenz meint

    genau… und loslassen gelingt nur, wenn es einem gut geht….. finde Ihre, Deine Texte (darf ich) durchwegs genial und berührend…. viel Glück, Grüessli Trudi aus Davos

  4. Regula Horlacher meint

    Damendramen. Am 11. Januar fahre ich mit meiner Tochter zur Hochzeit meines Sohnes nach Hannover und danach für eine Woche nach Berlin.
    Wir machen keine Städtereise zu zweit. Ich fahre nach Berlin, um zu arbeiten. Ich muss für eine Geschichte recherchieren. Eine Geschichte für die es keinen Auftraggeber gibt, ausser mir selbst. Ich habe noch keine Ahnung, wie ich das anpacken soll. Ich kann mir Berlin im Januar überhaupt nicht vorstellen.
    Es war nicht vorgesehen, dass meine Tochter mich nach Berlin begleitet. Die Trauung hätte eigentlich irgendwann im Oktober oder November stattfinden sollen und war dann verschoben worden. Mitten im Semester hätte sie sofort wieder nach Hause fahren müssen. Im Januar sind Ferien. Es freut mich sehr, dass sie mitkommen will.

    Ich bin ein praktischer Mensch, und ich gebe mich selten Illusionen hin. Gestern Abend habe ich das Hotelzimmer gebucht. Dabei ist mir Einiges durch den Kopf gegangen. Meine Tochter wohnt mit ihrem Vater zusammen, ich bin vor vier Jahren ausgezogen. Sie ist so selbständig, wie man es sich nur wünschen kann. Ich mache mir kaum je Sorgen um sie. Doch ich bin sicher, das wäre anders, wenn ich noch mit ihr im selben Haus leben würde. Auch wenn sie inzwischen dreiundzwanzig Jahre zählt, würde ich nachts wachliegen, bis ich hörte, dass sie nach Hause gekommen ist –
    Und nun fahren wir also zusammen nach Berlin.
    Das Einfachste wäre, ich würde meine Pläne ändern. Meine Geschichte sausen lassen und mich auf eine Mutter-Tochter-Berlin-Besichtigungstour einstellen: Am Morgen beim Kaffee mit Stadtplan und Reiseführer den Tag planen und abends mit wunden Füssen müde aber glücklich ins Bett sinken.
    Das kann ich nicht. Ich brauche diese Geschichte, auch wenn es keinen anderen Auftraggeber gibt, als mich selbst. Und ich muss sie in Berlin schreiben. Ich habe es von zu Hause aus versucht: Es ist nicht gut herausgekommen.
    Wir werden getrennte Wege gehen müssen. Nicht immer, aber oft. Wir werden Treffpunkte abmachen müssen, und wenn meine Tochter zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit noch nicht da ist, werde ich anfangen, mich zu ängstigen und mir werden die schlimmsten Sachen einfallen.
    Es ist absolut vernunftwidrig und rational nicht erklärbar, aber so funktioniert mein Geist. Als sie klein war, zwang ich sie, einen Velohelm zu tragen. Seit sie erwachsen ist, fährt sie die meiste Zeit ohne Helm Velo. Ich weiss das. Eigentlich müsste ich deswegen halb verrückt sein vor Sorgen, sie ist sehr viel mit dem Velo unterwegs. Tatsache ist, dass ich mir überhaupt keine Sorgen mache. Nur, wenn sie zufällig an mir vorbeifährt, steht mein Herz für einen Augenblick still, und mir fällt ein, was ihr alles passieren könnte.

    Es ist mein Problem, nicht ihres. Ich könnte mich auf so etwas Hehres wie die Verantwortung herausreden, die man seinen Kindern gegenüber ein Leben lang hat, aber ich weiss selber, dass es darum nicht geht. Es geht um mich selbst. Um meine Liebe zu diesem Kind, die zerstörerisch wirkt, wenn ich nicht aufpasse.
    Es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen: Auch wenn ich meiner Tochter erkläre, dass es sich bei meiner Überängstlichkeit um mein Problem handelt, sie wird es trotzdem zu ihrem eigenen machen. Mir zuliebe wird sie in Berlin auf Manches verzichten, das sie, wenn ich nicht dabei wäre, ohne Bedenken anpacken würde, und ich werde mir ein schlechtes Gewissen machen, weil ich der Grund dafür bin, dass sie sich zurückhält. Gleichwohl werde ich ihr dankbar sein.

    Liebe Grüsse
    Regula

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