Das Unschreibbare

Die Tage vergehen. Der Nebel rollt über die Hügel, in einem erstaunlichem Tempo, rot gefärbt von der Abendsonne, an den Rändern grau. Er hüllt die kleine Dachterrasse ein, wir ziehen Pullover an, dann flüchten wir hinein, tragen die Weinflasche, die Gläser, eine halbleere Tüte Chips („Oh, the Glory of it All!“) durch das Dachfenster wieder hinein. Müssen wir die Heizung anwerfen? Am nächsten Morgen scheint die Sonne. Dann verschwindet sie wieder, verschluckt von einer grauen Decke. Sommer in San Francisco.

Ich lese „Blue Nights“ von Joan Didion, ein unerträgliches Buch, roh und geschliffen, voller Schmerz, voller Zweifel, voller Distanz. Blue Nights ist eine Fortsetzung des Schmerzes, der in „The Year of Magical Thinking“ ausgebrochen ist. Dort beschreibt Joan Didion, was der plötzliche Tod ihres Mannes und die Trauer um ihn aus ihr gemacht haben. In diesem Buch wurde die rätselhafte Krankheit, dann der Tod ihrer Tochter, Adoptivtochter Quintana Roo nur am Rande erwähnt. Seltsam, dachte ich damals. Ich hätte wissen müssen, dass dieser ganz andere Schmerz ein ganz anderes Buch verlangte. In „Blue Nights“ stellt sich Joan Didion nicht nur dem Tod ihrer Tochter, sondern ihren Zweifeln. Ihrem eigenen Versagen als Mutter. Zweifel, die sie im Bezug auf ihre Ehe nicht hatte. In diesem Buch geht es um die Dinge „die zu sehen ich mir nicht leisten konnte.“ Sie stellt sich diesen Dingen mit dem verzweifelten Mut derer, die nichts mehr zu verlieren haben.

„Ich will dieses Buch gar nicht lesen“, sagt eine Freundin. „Ich hab sie im Radio gehört. Sie war keine gute Mutter.“

Joan Didion hatte sich ein Baby gewünscht, unbedingt, sie hatte keins bekommen. Dann ein Anruf ihres Arztes aus dem Krankenhaus: „Gerade is ein Mädchen zur Welt gekommen, wollt ihr es?“

„Was, wenn ihr das Telefon nicht abgenommen hättet?“, wird das Mädchen später fragen.

„Was, wenn ich es nicht lieben kann? Was, wenn ich nicht richtig für es sorgen kann?“,  die Mutter.

Das Mädchen, Quintana, ruft in einer nahegelegenen psychiatrischen Klinik an und fragt, was sie tun müsse, wenn sie das Gefühl habe, verrückt zu werden. Da ist sie fünf. Sie legt eine Liste an mit dem Titel Moms Sayings, was Mutter sagt:

Brush your teeth, brush your hair, shush, I’m working. 

Ein kurzes Kapitel lang bäumt Didion sich auf, verteidigt sich, führt die Freiheit an, die sie in ihrer Kindheit genossen hat, während der Kriegsjahre, niemand hatte Zeit, die Kinder ununterbrochen zu beaufsichtigen. Sie zitiert einen Artikel über die Gefahren dieser Überbetreuung, die in wohlhabenden, intellektuellen amerikanischen Familien dazu führt, dass Eltern bei den Besprechungen ihrer sutdierender Kinder mit den Professoren dabei sein wollen. Dieser Einschub wirkt müde. Und Didion lässt ihn fallen. Es geht nicht darum, sich zu verteidigen. Es geht darum, das aufzuschreiben, was man nicht aufschreiben kann. Sich dem zu stellen, was zu denken, zu fühlen, zu sehen man sich nicht leisten kann. Das, was für die Autorin so unerträglich ist, ist das, was das Buch am Ende ausmacht. Man möchte sie vor sich selbst schützen, man ist froh, dass sie es nicht getan hat. Zu welchem Preis?

How comfortable I used to be when I wrote, how easily I did it, how little thought I gave to what I was saying until I had already said it.  Und etwas später: The tone needs to be direct. I need to talk to you directly, I need to address the subject as it were, but something stops me. 

Müssen erst alle tot sein?

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4 Kommentare

Kommentare

  1. Milena Moser meint

    @ Anna: Ja, viiiiiiiiielen herzlichen Dank für den Tipp!!! „Karriere? Vergessen Sie’s! Beziehung? Können Sie nicht haben!“ Dieses Horoskop sollte mit einer Warnung kommen: Für Folgeschäden wie Depressionen und Suizidgedanken bei Krebsgeborenen übernimmt Mr. Lutin keine Haftung, im Gegenteil, er freut sich heimlich darüber. Schliesslich war Miss Breitschlag, seine Lehrerin in der ersten Klasse, die ihn so plagte, nur weil er mit der linken Hand schreiben wollte, eine Juligeborene. Seither sieht es Mr. Lutin als seine edelste Aufgabe, diesen Schalentieren den Garaus zu machen, sei es auf dem Teller oder via Horoskop…

  2. Regula Haus-Horlacher meint

    Liebe Milena
    Der folgende Blog-Beitrag nimmt Bezug auf meinen Beitrag vom Freitagabend, der Bezug nahm auf deinen „Neun-Stunden-mehr“-Input vom 1. Juli und aus irgendeinem Grund rausgefallen ist. Das habe ich aber erst bemerkt, als ich diesen, neuesten Beitrag schon fertiggeschrieben hatte.
    Nun füge ich ihn an dieser Stelle ein, weil mir scheint, dass er auf seltsame Weise mit deinem Input über Joan Didions Buch korrespondiert, ja sogar beinahe eine (meine) Art Antwort auf deine Schlussfrage sein könnte: „Müssen erst alle tot sein?“ Obwohl ich die Frage, als ich den Beitrag schrieb, noch gar nicht kannte –

    ———————-

    Ich will berichten, wie es mir gestern in Luzern ergangen ist.
    In einem Café war ich natürlich nicht. So ist es ja immer: Nie trifft das ein, was man sich vorgestellt hat :-)
    Aber der Reihe nach:
    Zuerst musste ich an einem reissenden Fluss entlanggehen. Der Weg war schmal und mir wurde schwindlig vom Blick auf die wilden Fluten. Fünf Brücken gingen von diesem Weg ab, aber ich hatte eine Wegbeschreibung bei mir, und wusste, dass ich auf dieser Seite des Flusses bleiben sollte. Dann kam ich zu einem hässlichen Haus. In meiner Wegbeschreibung stand, dass das Haus hässlich sein würde, darum wusste ich, dass es das Richtige war, und ich liess mich vom Lift in den obersten Stock bringen. Er hielt vor einer unscheinbaren Tür. Mal sehen, dachte ich, hinter den unscheinbarsten Türen erwarten einen oft die grössten Wunder. Und so war es auch. Ein heller Raum tat sich vor mir auf, ein reich gedeckter Tisch stand in der Mitte, ein grosses Fenster eröffnete mir die Aussicht über die Dächer der Stadt. Vor dem Kranz der Berge konnte man den See erahnen. Ich war überwältigt.
    Ein leises Rascheln holte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich wandte mich um, und da stand – ihr werdet es nicht glauben, aber ich schwör’s – mit Haar, so schwarz wie Ebenholz und Haut, so weiss wie Schnee: Das Christkind! Es herzte und küsste mich und brachte mich zu meinem Platz am Tisch, an dem jetzt – ich weiss nicht, woher sie gekommen waren – vier Frauen sassen, die mich freundlich anlächelten.
    Nun fand ich auch Zeit, die aufs Wunderbarste angerichteten Speisen zu betrachten. Da gab es Muschelrädchen auf Erbsenmousse, in Rauchlachs gerollte Salatblättchen mit Sauerrahmfüllung, Roastbeef mit Mayonnaise und Limetten. Es gab Melonen mit Rohschinken, Erdbeeren und Feigen, Äpfel und Bananen … und pralle, dunkelrote Kirschen, die uns das Christkind aus dem hinter den Jurabergen gelegenen Fricktal mitgebracht hatte.
    So muss es im Himmel sein, dachte ich, und ich muss zugeben, dass es mich kein bisschen wunderte, als das Christkind verkündete, wir würden jetzt Weihnachten feiern und begann, die poetischste, zarteste Weihnachtsgeschichte zu erzählen, die ich je gehört habe. Irgendwann – das hoffe ich inständig – wird diese Geschichte um die Welt gehen.
    Aber damit war diese ganz besondere Weihnachtsfeier mitten im Sommer noch lange nicht zu Ende! Und so kam es, dass ich an einem einzigen Tag mit durch Prags Gassen wandern durfte, im Blumengarten vor dem schönsten Emmentaler Bauernhaus, das man sich denken kann, half, Unkraut zu jäten, an einem Strand im fernen Dänemark zuschaute, wie Linien in den Sand gezeichnet wurden. Ich erfuhr, dass die Bewohner eines kleinen Dorfes, gar nicht weit weg von der Stadt, in der wir uns befanden, früher von Scharfrichtern auf Feuerstühlen mit Kanonenkugeln hingerichtet wurden. (Ist das nicht furchtbar?) Und ja, ich stellte fest, dass meine Erzählung „Ein Tag in meinem Leben“ doch noch nicht ganz fertig ist. Es besteht Erklärungsbedarf –

    Während nun also die vier freundlichen Frauen, ermuntert vom Christkind, all die schönen und schrecklichen Geschichten erzählten, während ich mich von ihnen nach Prag und Dänemark, ins Emmental und in das mittelalterliche Dorf im Luzerner Hinterland entführen liess, während ich von den wunderbaren Speisen ass und mein Blick vom Froschkönig auf der Tasse des Christkinds, zur Wand mit dem aufgemalten Molch und schliesslich über die Stadt schweifte … geschah etwas! Plötzlich stieg dicker, dunkler Rauch auf!
    „Es brennt“, sagte ich.
    Betroffen sahen wir uns an.
    Rauchgeruch drang ins Zimmer.
    Die Sirenen der Feuerwehrautos heulten.
    Der Bahnhof?
    Das Konzerthaus?
    Eines der grossen Hotels am Seeufer?

    Nichts von alldem. Ein Schiff war explodiert und hatte fünf weitere in Brand gesteckt. Die Wirklichkeit hatte uns eingeholt.

    Als ich gegen 17 Uhr, den Blick fest auf den schmalen Weg geheftet, dem Fluss entlang zum Bahnhof zurückging, dachte ich an die verbrannten Schiffe und dass manchmal etwas geschieht, ohne dass man selber etwas dazu tun muss.

    Bleibt noch die Frage, ob es denn nun geklappt hat, mit den neun zusätzlichen Stunden, die ich in meinem Blog-Beitrag vom Freitag so vehement für mich eingefordert habe!?
    Ja, das hat es. Mehr Fülle kann man von einem einzigen Tag wohl kaum verlangen!

    ———————-

    Liebe Schreibfreundinnen vom Dienstagabend

    Ich danke euch für eure Offenheit, ohne die das gestrige Treffen in Luzern niemals so erfolgreich geworden wäre.
    Besonders danke ich Ursula, (der ich, wegen ihrer Weihnachtsgeschichte, die mich sehr beeindruckt hat, im obenstehenden Beitrag kurzerhand die Rolle des Christkinds übertragen habe), die uns trotz Zahnschmerzen nicht alleingelassen und natürlich Kathrin, die uns so wunderbar bewirtet hat.
    Und, wie immer dir, Milena – von Ferne sei herzlich gegrüsst! Ohne deine Grosszügigkeit in allen Belangen wären wir nicht da, wo wir heute sind.

    Und noch etwas: Selbstverständlich bedaure ich, dass diese Schiffe verbrannt sind. Es ist gar nicht in meinem Sinn, dass zuerst Schiffe brennen müssen, damit ich zu tiefgreifenden Erkenntnissen gelange. Glücklicherweise wurde niemand verletzt, und wenn sie schon brennen mussten, nun ja – dann sind meine Erkenntnisse wenigstens ein kleiner Nutzen davon

    Habt einen guten Start in die neue Woche!
    Mit lieben Grüssen
    Regula

    • Milena Moser meint

      @ Regula: Die Technik wieder… keine Ahnung, was da passiert ist! Aber schön ist die Szene in Luzern, wunderbar, entschuldige dich für nichts! Manche Schiffe müssen verbrannt werden.

    • Regula Haus-Horlacher meint

      @Milena: Danke!
      Ich hab schon eine Ahnung: Ich wollte mich zur Ruhe setzen, aber das hat nicht geklappt. Parkverbot.
      Meine Schiffe habe ich schon oft hinter mir verbrannt. Das letzte und gründlichste Mal, als ich mit Dampfkochtopf und Nähmaschine im Leiterwagen … na ja, du weisst schon.

      „Das klingt nach Hamsterrad!“, sagte eine meiner Schreibfreundinnen, als ich am vergangenen Samstag in Luzern meine Erzählung „Ein Tag in meinem Leben“* vorlas. Da hat sie wohl Recht. Und ich kann meine Schiffe hundert Mal hinter mir verbrennen, wenn ich das Hamsterrad wie eine zweite Aura mit mir herumschleppe, nützt das gar nichts. Man spürt es mir an. Deshalb spinne ich wie die schöne Müllerin im Märchen nach wie vor jede Nacht eine Kammer voll Stroh zu Gold. Sie tut das nicht ganz freiwillig, wie wir alle wissen. Ich auch nicht.
      Und so suche ich verzweifelt nach dem Zauberwort. „Rumpelstilzchen“ ist es nicht, so viel weiss ich. „Rumpelstilzchen“ ist nur das X in der Formel. Ach, hätte ich doch auch einen Boten, den ich aussenden könnte, wie die schöne Müllerin – aber solche Boten gibt es wohl nur im Märchen. In der Wirklichkeit findet man das Zauberwort nie. In der Wirklichkeit gibt es auch keinen Lift, der einen in den Himmel bringt. Man muss zu Fuss gehen, die Treppe hinauf. Stufe für Stufe.
      Gestern habe ich die Bücher nach Bern geschickt. Mal sehen.
      Und in einer Woche sind endlich Ferien.
      Liebe Grüsse
      Regula

      *NB: Es handelt sich um den 14. Sept. 2002.

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