Die Bedeutung des Toast.

chin_mee_chin_breakfast Diese Woche ruhte der Roman – oh Gott, ich hoffe, mein Verleger liest das nicht! – während ich andere Aufträge aufarbeitete. Mit anderen Worten: Kaum hatten wir uns auf ein Vorgehen geeinigt, legte ich es wieder hin. Dafür habe ich heute endlich (endlich?) die Geschichte über die misshandelten Hausangestellten in Singapur abgegeben. Auch bei diesem Text bin ich vollkommen anders vorgegangen als sonst. Es war auch eine andere Aufgabe, als ich mir gewöhnt bin. Wie hier beschrieben, notierte ich den Inhalt aller Gespräche, kaum waren die Gesprächspartnerinnen um die nächste Ecke verschwunden. So hatte ich schon bei meiner Rückkehr aus Singapur kurz vor Weihnachten das Rohmaterial im Gepäck. Ein Dokument in dreifacher Länge, lieblos heruntergeschrieben, Aufzeichnungen der Gespräche, stichwortartige Beschreibungen der Orte, der Atmosphäre, wirre Zwischengedanken. Eine Liste von Fakten und Zahlen, die ich noch recherchieren musste – was ich, wie ihr unterdessen wisst, immer erst ganz zum Schluss und sehr gezielt mache. Ich bin mit Google als Muse nie wirklich glücklich geworden – schade, sonst könnte ich hippe und relevante Theaterstücke schreiben und viel Geld verdienen!

Doch, doch, das hab ich neulich in der Zeitung gelesen, weiss nicht mehr um welches Stück es ging, aber es wurde ganz offen zugegeben: „Wir haben uns ein Thema gesucht und dann gegoogelt. Und aus dem Gegoogelten etwas gebastelt.“ Da wurde mir klar, dass googlen die nächste Generation der Ecriture Automatique ist: Eine Form der Selbstüberlistung. Ein waghalsiger Sprung über die Blockade, ein Umdrehen des gefürchteten weissen Blattes. Nur google ich in meinem Kopf. Ich führe Material zutage, von dem ich nicht wusste, dass es da war. Dieses Material ist meines. Ich kann mich nicht ungerührt geben, kann mich nicht verstecken: „Alles recherchiert. Alles auf dem Netz gefunden.“ Die Brocken, die ich zutage fördern, sind im weitmaschigen Netz meines Unbewussten hängengeblieben. Sie geben mich preis.

Halb hoffte ich, die Redaktion würde den Text sofort fordern, damit ich mir die widersprüchlichen und verstörenden Eindrücke von der Seele schreiben konnte, aber die Geschichte wurde auf die nächste Nummer geschoben. Und so lag das Rohmaterial einige Wochen ungestört herum und als ich das Dokument dann wieder öffnete, hatte es sich ohne mein Zutun verändert. Etwas hatte gemodert, weitergegärt, sich gesetzt.

Ich wusste also, was ich erzählen wollte, aber noch nicht wie. Die Zeitschrift Reportagen gewährt eine beinah unbegrenzte künstlerische Freiheit im Rahmen der faktischen Nachprüfbarkeit. Was sie nicht wollen, sind Strickmustertexte, zwei rechts, zwei links, dureschlaa und abelaa.

Also nutzte ich diese Freiheit und erzählte die Geschichte so, wie ich sie an meinem Esstisch erzählen würde. Ich fing am Ende an und kreiselte dann zurück an den Anfang, ich kam vom Hundersten ins Tausendste und streifte bei jedem Abschweifen die Portion Kaya Toast, die auf dem Tisch zwischen uns stand, die beiden weichgekochten Eier in der Schale, die keine von uns essen mochte. Felicias Kichern, mitten in der erschütterndsten Beschreibung ihres Alltags, immer wieder: „Ich kann nicht glauben, dass du diese Eier bestellt hast!“

Felicia und ich sind in Kontakt geblieben. Vor drei Tagen bekomme ich eine mail von ihr, ein perfekter Schlusssatz. Zum früheren Abgabetermin wäre die Geschichte auf einem anderen Ton ausgeklungen. Ich gebe den Text ab, ich warte auf die Reaktion der Redaktion. Ich weiss nicht, ob das, was ich geschrieben habe, gut ist. Ich weiss nur, dass ich es so noch nie gemacht habe, und dass ich es nicht anders machen konnte. Ich kann mich nicht verstecken.

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Leser-Interaktionen

3 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    Liebe Milena

    Ähnlich wie dir mit der Singapore-Reportage ist es mir mit deinem letzten Blog-Input über Nevadas „Bewerbungsgespräch“ ergangen. „Aber …“, wollte ich rufen, „Einspruch … so wartet doch … ich will auch etwas sagen. Das ist doch nicht nett, was da mit Nevada geschieht, das ist doch schrecklich! Das ist doch verkehrt, ganz verkehrt!“ Aber wie in einem Traum, den ich oft träume, – ich befinde mich in einer bedrohlichen Situation und versuche zu schreien, doch so sehr ich mich auch anstrenge, es gelingt mir nicht, aus meinem Mund kommt nur lautloses Hauchen –, hatte ich bald einen Haufen Notizen beisammen, die zu nichts führten und Textanfänge, die alle nach wenigen Sätzen abrachen. Von der Frage deines Verlegers „Gibt es so was wirklich?“ umgetrieben, recherchierte ich im Internet zum Begriff „Berührerinnen“, ein Thema, das vor ein paar Jahren im Zusammenhang mit dem Recht der Behinderten, ihre Sexualität zu leben, diskutiert wurde. Und: Ja, natürlich gibt es so was wirklich! Was ich herausgefunden hatte, liess mich mit einem mehr als unguten Gefühl zurück. Es ist dünnes Eis. Sehr dünnes Eis.

    Und Dante? Kann man denn wirklich davon ausgehen, dass sich Nevadas Ängste in seinen Armen auflösen? Es fällt mir schwer, das zu glauben! Gut, er ist (bzw. war, irgendwo steht ja, dass er wieder gesund wird -) auch versehrt und wird möglicherweise aus diesem Grund mehr Verständnis aufbringen können, als wenn er die Erfahrung „Krankheit“ nicht gemacht hätte. Aber eigentlich kenne ich Dante gar nicht und Nevada auch nur aus den „Montagsmenschen“, denn im Blog erfährt man nicht viel mehr über die beiden, als dass sie krank sind und sich zwischen ihnen eine Liebesgeschichte anbahnt. Nichtsdestotrotz hat Nevada seit gut einem Jahr eine Art Zweitwohnsitz in meinem Kopf. Ich habe sie lieb gewonnen, ihr Schicksal geht mir nahe, ich erkenne mich in ihr. So ist mir zum Beispiel das Bild des kleinen Mädchens aus den „Montagsmenschen“, dem es gelungen ist, sich aus der Schatulle in Nevadas Becken zu befreien, sehr vertraut. Ich habe auch so ein kleines, befreites Mädchen in mir. Aber leider weiss ich nur zu gut, dass dieses Mädchen keineswegs ein für alle Mal befreit ist. Immer wieder duckt es sich verängstigt in die Schatulle zurück und lässt den Deckel über sich zuklappen. Ich nehme an, bei Nevada funktioniert das ähnlich. Wie aber kommt ein Mann damit zurecht, dass seine Partnerin, kaum zieht er einmal die Augenbrauen ein wenig zusammen, entweder flieht oder sich in sich selbst verkapselt, wenn der Körper eine Flucht nicht zulässt? Wie soll er verstehen, dass es sich dabei nicht um Misstrauen ihm gegenüber handelt, sondern um Mutlosigkeit, die in der tiefen Überzeugung gründet, nicht liebenswert zu sein? Ist es nicht unvermeidlich, dass er sich irgendwann verletzt abwendet, wenn er den Grund für die ständigen Rückzüge seiner Partnerin, die ja immerhin als Reaktion auf sein Verhalten erfolgen, nicht kennt?
    Ich glaube an die Heilkraft der Liebe. Ich glaube sogar, dass Heilung nur möglich ist durch Liebe. Aber Liebe lebt meiner Ansicht nach von Offenheit und ehrlicher Auseinandersetzung. Wenn ich deshalb lese, dass der Erzählfaden, bei dem es um Nevadas Missbrauchserinnerung geht, gekappt werden soll, weil er „im ganzen Gewebe störend wirkt“, wird mir mulmig zumut …

    Soweit kam ich gestern Abend. Dann merkte ich, dass ich im vorangehenden Satz ein Wort überlesen hatte. Es heisst nicht „Ist es nicht wichtig zu zeigen, dass ein solcher Stempel das ganze Leben, jeden Tag beeinflussen oder gar beeinträchtigen muss?“ sondern „Ist es nicht wichtig zu zeigen, dass ein solcher Stempel NICHT das ganze Leben, jeden Tag beeinflussen oder gar beeinträchtigen muss?“
    „Ja, aber -“, wollte ich protestieren, „so etwas beeinträchtigt doch das ganze Leben … es vergeht doch kein Tag, ohne dass man in irgendeiner Form, die Folgen eines solchen Traumas zu spüren bekommt!!!“
    Und schon steckte ich wieder fest … aber inzwischen war halb zehn geworden, deshalb ging ich erst mal ins Bett.

    Gestern Morgen, ich lag noch im Bett, ermöglichte mir die Erinnerung an Felicias Kichern plötzlich den Schreibfluss. Warum weiss ich nicht, denn über Felicia weiss ich ja noch weniger als über Nevada, nur, dass ihr in ihrem Alltag Schreckliches angetan wird, was sie aber nicht daran hindert, zusammen mit einer Schweizer Schriftstellerin über weichgekochte Eier zu kichern, die diese bestellt hat, obwohl sie beide weichgekochte Eier eigentlich gar nicht mögen. Scheinbar ohne Zusammenhang und doch eindeutig im Zusammenhang mit diesem Kichern ist mir der Gedanke gekommen, dass man „mit der blossen Konzentration auf die anstehenden Verrichtungen des Alltags Depressionen vermeiden kann“. Aufstehen. Zwei Orangen auspressen, um den Körper für die tägliche Eisenaufnahme fit zu machen. Frühstück bereiten. Etwas länger als nötig unter der Dusche stehen bleiben, wenn man schon ausnahmsweise mal etwas mehr Wärme erträgt. Geschirr abwaschen. Pflanzen giessen. Endlich die neue ID bestellen und überall sonst die Namensänderung melden, wo das noch nicht getan ist. Einkaufen.
    Ich stand also auf und fing einfach mal an. Als ich fertig war, setzte ich mich vor den Laptop und begann diesen Blogbeitrag zu schreiben. Die Geschichte über die Wirkung von Felicias Kichern konnte ich mir aufsparen, es lief auch so. Jetzt bin ich froh, dass ich sie noch habe und hervornehmen kann.
    Einfach mal anfangen. Ich glaube nicht, dass das Leben einen Sinn hat, ausser dem Leben selbst. Wenn ich einmal sterbe, möchte nicht ins ewige Licht eingehen, sondern dass Wer-immer das Licht ausknipst und ich in samtschwarzer Dunkelheit schlafen kann. So end- wie traumlos. Solange ich aber noch lebe, werde ich es nicht aufgeben, für eine richtig schöne Liebesgeschichte zu kämpfen. Meine Liebesgeschichte. Und ich werde Texte wie diesen „in die Welt hinausschicken“, um mit Corinnes Worten zu sprechen. Selbstverständlich werde ich tausend Tode sterben dabei. Aber ist denn das wirklich so schlimm?
    Felicia – was für ein Name!

    Mit lieben Grüssen
    Regula

  2. Hans Alfred Löffler meint

    Zum Link: Reportagen NICHT als http://www.reportagen.ch/ verknüpfen mit und mit http://reportagen.ch/ auch NICHT. Übehaupt nicht wäre besser oder dann gleich à la hipe mit http://reportagen.com/autorinnen, wenn schon dann gleich mitten ins Herz oder doch besser „die Geschichte über die misshandelten Hausangestellten in Singapur“, pur von Dir. Danke!

  3. Hans Alfred Löffler meint

    Heute hörte ich etwas über Krokodile in Überschwemmungsgebieten, am Radio, und vergas es sofort. Später las ich «zwei rechts, zwei links, dureschlaa und abelaa» und erinnerte mich an den «Matratzenstich», d.h. an längst vergangene Erinnerungen im Handarbeitsunterricht, Deinem (ich musste in die RS, früher). Können Erinnerungen vergehen oder vermodern, vergären? Denk‘ ich nicht, aber ich freue mich auf Felicia die sich «gesetzt» hatte, damit Du «kreiseln» kannst um das ‚Wie‘ Du ihre Geschichte erzählen willst, Felicia wartet …. erinnert mich an «Selberschreiben 12: Sie warten.» u.v.a.

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