Die Frage nach der Struktur

Wie kann ein derart chaotischer Schreibprozess wie meiner zu einem klar strukturierten Buch wie der Putzfraueninsel führten, fragt René. Nun könnte ich natürlich antworten, bleib einfach dran an meinem Blog, und in ein oder zwei Jahren wirst du es wissen…. Aber das wäre arrogant. Nun denn.

Die fertige Putzfraueninsel erzählt tatsächlich eine klar strukturierte Geschichte, die man leicht zusammenfassen kann: Eine Putzfrau findet im Keller einer ihrer Kundinnen eine halbverhungerte, gefangene Grossmutter. Sie entführt sie, päppelt sie hoch, und die beiden Frauen demolieren lustvoll die perfekte Fassade der Familie Schwarz. Alle Kunden der Putzfrau werden in diesen Racheplan miteinbezogen. Ob sie wollen oder nicht, ob sie es wissen oder nicht.

Nichts davon war da, als ich anfing zu schrieben. Zuerst hatte ich nur die Figur der Putzfrau, die schon in einer Kurzgeschichte (Mein elfter Mord) auftauchte. Eine Putzfrau, die schamlos in den Leben ihrer Kunden herumneuselt, sich aus den Abfällen eine Art Restenleben bastelt, aus weggeworfenen Telefonnotizen, beschmutzten Laken, leeren Flaschen im Abfall. Sie reimt sich Geschichten zusammen, die sie mitleben kann. Im Nachhinein denke ich, das könnte durchaus auch ein Bild für eine Schriftstellerin sein, die sich hier und da bedient, um ihre Geschichten, ihre Realität zusammenzusetzen. Diese Putzfrau hat mich nicht losgelassen. Umso mehr, als damals, ich war Ende zwanzig, die ersten meiner Freundinnen genug Geld verdienten, um sich eine Putzfrau leisten zu können. Das ging nicht ohne Hadern und Zweifeln ab: Darf ich als Feministin eine andere Frau anstellen, mir den Dreck wegzumachen? Darf ich als Schweizerin eine Ausländerin ausbeuten? Muss ich meine Aktfotos wegräumen, um die Putzfrau nicht zu schockieren? Bin ich für meine Putzfrau der Klassenfeind?

Da ich selber noch keine Putzfrau bezahlen konnte und deshalb immer neidisch und leicht genervt zuhörte, fing ich an, mir vorzustellen, was diese Putzfrau wirklich denkt. Ich begleitete sie von einem Haushalt zum anderen (nein, nicht zu meinen Freundinnen!) Ich schaute zu, wie sie an ihrem freien Tag im Supermarkt einen Mann abschleppte. Nach ungefähr fünfzig Seiten war es Freitag, und sie fuhr zu einer nach aussen hin perfekten Familie, und ich wusste schon, da stimmt etwas nicht. Ich begleitete Irma durch das Haus, und es wurde immer unheimlicher. Ausserdem war da eine verschlossene Tür. Als Irma die Tür verbotenerweise öffnete, erschrak ich fürchterlich: Eine Leiche? Nein, sie lebt!

Da begann dann die Geschichte. Ausdenken hätte ich mir das nicht können: Oh Gott, die sprichwörtliche Leiche im Keller, Moser, du lässt aber auch kein Klischee aus, hätten meine Affen gerufen und die Idee verworfen. Aber in diesem Moment, als Irma Nelly fand, steckte ich schon zu tief drin, um noch innehalten zu können. Es blieb mir nichts anderes übrig, als Irma zu folgen, die Nelly in ihren Armen aus dem Haus und in ein Taxi trug. Die ersten fünfzig Seiten blieben zwar nicht im Buch, dienten aber später, als der Racheplan konkrete Formen annahm, als Hintergrund. Ohne gross basteln und „plotten“ zu müssen, wusste ich genau, welche Kunden wie eingesetzt werden konnten – ich kannte sie ja schon seit fünfzig Seiten.

Das Manuskript der Putzfraueninsel ging wie jedes andere auch durch mehrere Phasen. Es gab mindestens drei Versionen. Und der Prolog, in dem Nellys Tod vorweggenommen wird, entstand erst ganz am Schluss. Ich wusste, dass Nelly sterben würde, aber ich konnte es nicht ertragen. Deshalb schnitt ich die letzte Szene heraus. Verschweigen konnte ich den Tod jedoch nicht, das wäre „Bschiss“. Also stellte ich ihn der Geschichte als Prolog voran, in der kindlichen Hoffnung, man möge ihn bis zum Schluss vergessen haben, und voller Hoffnung mit Irma und Nelly und Eugen ins Flugzeug steigen.

Das ist die lange Antwort, René. Die kurze: Die Struktur zeigt sich während des Schreibens. Sie wächst organisch. Wie ein Schal.

Über die neuesten Blogbeiträge informiert bleiben

  • Dieses Feld dient zur Validierung und sollte nicht verändert werden.

Leser-Interaktionen

14 Kommentare

Kommentare

  1. Michael Cremer meint

    Hallo Milena,
    hier schreibt der Mann mit Augen wie offene Flügeltüren. Habe mich lange im Spiegel angeschaut, bin aber ganz froh, dass sie offen sind. Ja, ich kann mit Engeln reden. Eigentlich reden sie mehr mit mir, denn sie kommen nicht auf Kommando, sondern dann, wenn es etwas Wichtiges gibt. Nur mit meinem Schutzengel kann ich mich seit etwa 3 Jahren immer unterhalten. Vielleicht wirke ich ungepflegt, aber ich gebe nichts auf Äusserlichkeiten. Die Welt ist viel zu voll davon und die inneren Werte sind mehr und mehr verloren gegangen. Wie man aus deinem Blog erkennen kann, erkennst Du immer mehr die inneren Werte in Dir und Du fragst Dich nach dem Sinn des Lebens. Wenn Du willst, können wir gerne mal darüber reden und ich werde versuchen, ihn Dir zu erklären. Nichts im Leben geschieht ohne Grund. Ich sollte zu Deiner Lesung gehen und wie ich im Blog gelesen habe, ist unsere Begegnung nicht spurlos an Dir vorbei gegangen. Ich bin seit Jahren arbeitslos, aber der Kontakt mit Engeln ist mit keinem Geld der Welt zu bezahlen und es macht mir nicht das Geringste aus, dass ich keinen irdischen Job habe. Die göttlichen Aufträge sind viel, viel wichtiger. Du bist eine wundervolle Frau und ich hoffe, dass Du immer mehr den Weg ins Licht findest.

    Gott segne Dich und Deinen Weg

    Michael

    P.S.:
    Engel sind Freunde, die uns auf die Beine helfen, wenn unsere Flügel vergessen haben, wie man fliegt.

    • Milena Moser meint

      @ Michael: Schön von dir zu hören! ich wusste deinen Namen nicht mehr, obwohl ich ihn ja in ein Buch geschrieben hatte… Ja, die Augen, das ist mir darum aufgefallen, weil ich es selten sehe…

  2. Ger van der Heijden meint

    Am 3. Februar das Foto von Gary Grant gepostet hier und Facebook. Berichte verschunden. Jetzt Foto im Bild. Nicht ein Mahl Danke :(
    Auslandische Berichte (Niederländischer Fan) nicht erwünscht?

    Ein herzlicher Gruss,
    Ger

    • Milena Moser meint

      @ Ger: Um Gottes Willen nicht doch! Deine Kommentare sind nicht bei mir angekommen. Weil irgendwas am Server gebastelt wurde, konnte ich das Bild ein paar Tage lang nicht posten, ich hatte es aber in meinem Fotoalbum. Dann wurden die „Zugriffsrechte“ oder wie oder was wieder geändert, und siehe, ich konnte das Bild veröffentlichen! Vielleicht sind deine – und auch andere? – Kommentare in diesem Bermudadreieck verloren gegangen? So oder so entschuldige ich mich dafür, und bedanke mich für deine Beiträge, wo immer sie gelandet sein mögen… Ich werd jetzt gleich auch mal auf FB nachschauen… da hab ich nämlich auch nichts gesehen!

  3. Barbara meint

    Ich bin in den Ferien. In der Ferienwohnung habe ich mir den kleinen Holztisch vors Fenster gestellt. Es sieht so aus, wie ich mir einen Schreibplatz schon oft vorgestellt habe. Ein alter Tisch vor einem Fenster, mein Laptop drauf, sonst nichts. Vor dem Fenster dörfliches Leben. Menschen, die zu Fuss in den Dorfladen gehen. Es ist sogar noch schöner. Ein strahlend blauer Himmel, auf den Häusern eine zwei Meter dicke Schneedecke, Formationen wie aus dem Spritzsack, eisig kalt. So eisig kalt, dass man vor zwölf gar nicht erst länger raus wollen muss. Und ich schreibe. Ich schreibe zum ersten Mal in den Ferien. Seit ich schreibe, um zu üben die Kontrolle aufzugeben, ist das Schreiben leicht. Und ich glaube entdeckt zu haben, weshalb ich diese Sehnsucht habe zu schreiben. Ohne Kontrolle ist das Schreiben wie ein zielloses Schlendern, mal hier und mal da schauen, stehen bleiben, ein Gehen mit klarem und präsentem Blick, neugierig auf das, was sich zeigen wird, ein Gehen im Fluss der Zeit, nicht schneller, nicht langsamer, da sein, für das, was passiert, nichts anderes wollen als das. Im Moment kümmert es mich noch überhaupt nicht, was aus diesem ziellosen unkontrollierten Schreiben wird. Marcel Affengeist grunzt ab und zu im Hintergrund, ein leises Aufstossen aus dem Koma. Obwohl ich heute wieder einmal an das Thema geraten bin, über das ich nicht schreiben will. Ich will nicht über die Sprachlosigkeit in der Beziehung zu meinem Vater schreiben. Ich weigere mich, aber Selma und Marius wollen über ihre Väter sprechen. Ich suche einen Weg, ich versuche, einen Vater zu konstruieren, der nicht meiner ist, um auszuhalten, dass Selma Dinge sagt, die ich erlebe aber nicht schreiben will. 6090 Zeichen. Und jetzt noch dieser Blog. Schreiben im Goms. Ich grüsse euch herzlich, Barbara

    • Gise Kayser-Gantner meint

      Wunderbare Ferien wünsche ich! Die Träume vom perfekten „Schreibplatz“ sind einander so ähnlich! Nicht nur ich habe die Idee (und in der Realität) so umgesetzt, es finden sich auch immer wieder Abbildungen von berühmten Autorinnen und Autoren, die genau das zeigen. Einen riesigen sentimentalen Anfall bekam ich beim Anblick von Virginia Woolfs‘ Schreibtisch: Ein schlichter Tisch, kleine Fläche, mit sanft geschwungenem Bein, auf blankem Holzboden vor einem alten Fensterkreuzfenster – da fallen einem doch gleich tausend Situationen ein zu dem, was sich da vor und hinter dem Fenster abspielt … ich glaube, ich muss das jetzt gleich aufschreiben!

    • Barbara meint

      @Gise: Erstaunlich! Der Tisch in der Ferienwohnung hat tatsächlich sanft geschwungene Beine, er steht tatsächlich auf einem blanken Holzboden und die Fenster wurden zwar erst kürzlich ausgewechselt, aber das Fensterkreuz ist tatsächlich wieder da. Ob es so etwas wie einen Archetyp von einem idealen Schreibplatz gibt?

    • Gise Kayser-Gantner meint

      — ganz bestimmt! Und die Idee davon schwebt durch den Äther – und wenn wir schreiben, dann greifen wir danach … dann haben wir alle diese Schreibtischatmosphären-Vorstellung
      Metagrüsse!
      ;->>

    • Barbara meint

      @Anke: danke für die feinen Worte, liebe Anke, freue mich, wenn wir uns hier gegenseitig inspirieren, auf ein zwangloses Schreiben! herzlich, Barbara

  4. Verena Raaflaub meint

    Liebe Milena
    wirklich, es liest sich dann alles so „süffig“ und spannend. Aber was dahinter steckt, wie oft umgedreht, umgeschrieben, umplaciert, nach Ausdrücken gerungen und Formulierungen ausprobiert werden, das ist Knochenarbeit. Und doch, es macht einfach Spass!
    Ich sehe und höre Dich am 22. Februar in Bern. Für heute toi toi toi!
    Verena

  5. Karin meint

    Das Bild von Cary Grant strickend ist klasse. :-)
    Tja, aus Wirrwarr ein strukturiertes Buch oder eine Geschichte machen, das ist hart. Ich muss mein Geschreibsel immer erst einmal vier Wochen liegen lassen, sonst komme ich gar nicht klar. Selbst dann ist es noch schwer. Wenn es nicht so schön wäre sich Geschichten auszudenken und sie irgendwann fertig (na ja, so richtig fertig …mir fällt da immer noch etwas ein oder auf) haben, würde ich schon lange aufgegeben haben. Überarbeiten und sich mit seinen, teilweise doch recht kruden, Gedankengängen auseinandersetzen, ist schon hart.
    Liebe Grüße aus Kiel
    Karin

  6. Milena Moser meint

    @ Anke: Ja, irgendwann wird alles ausgedruckt, und gelesen, und dann noch einmal neu geschrieben… Satz für Satz! Siehe 6 Punkte Programm – das werde ich hier ausführlich beschreiben, wenn ich so weit bin – wann immer das ist. Bis dann hab ich es garantiert längst im Kurs behandelt, keine Sorge!

An der Diskussion teilnehmen

Hier können Sie Ihren Kommentar schreiben. Ihre Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * bezeichnet.