Die Wahrheit und andere Erfindungen.

draft_lens5323752module40219052photo_1245074153funny_road_signs_seldom_seen_road

 

 

 

 

 

Letztes Wochenende leitete ich einen Workshop im biographischen Schreiben, der von der MS Gesellschaft organisiert worden war. Dieser Kontakt entstand vor ein paar Jahren, als ich zu meinem Roman „Montagsmenschen“ interviewt wurde, in dem eine der Figuren an MS erkrankt. Ganz ehrlich, ein bisschen mulmig war mir schon, als das Magazin „Forte“ ein Leseexemplar bestellte. Wie würden „echt“ Betroffene die Geschichte einer komplett erfundenen Leidensgenossin aufnehmen?

F: Was hat Sie veranlasst, MS in Ihrem Buch zu thematisieren?

A: Um ehrlich zu sein, wusste ich lange Zeit nicht, was mit Nevada los ist. Mich interessierte zuerst die Ausgangslage: Jemand, der sein ganzes Leben auf den Körper gebaut hat, verliert die Kontrolle über denselben (das passiert uns ja allen früher oder später). Ich bin als Kind über eine enge Freundin meiner Mutter mit MS in Berührung gekommen, eine sehr offene, starke, aussergewöhnliche Frau, die mich manchmal direkt ansprach: Schaust du meinen Stock an? So hatte ich diese Erkrankung schon von Anfang an im Hinterkopf, aber erst einmal warf ich Nevada die Symptome an, die zu den jeweiligen Szenen passten. Dann legte ich diese Symptome einer ausgebildeten und zwei angehenden Aerzten vor. Sie übertrafen sich erst in extremen Diagnosen, bis eine von ihnen schliesslich sagte: Es kann nur MS sein.

F: Sie beschreiben die Symptome und Entwicklung einer MS-Erkrankung sehr eindrücklich und einfühlsam. Wie sind Sie beim Recherchieren vorgegangen?

A: Was für mich als Schriftstellerin besonders hilfreich ist, ist dass die Krankheit ganz unterschiedlich verlaufen kann. Die junge Ärztin hat mich auch eindrücklich über die Fatigue als eines der belastendsten Symptome aufgeklärt. Das ist nun etwas, das ich im kleinen Rahmen auch kenne und deshalb gut beschreiben konnte. Manches, was ich beschreibe, habe ich auch geträumt: dass die Beine so schwer sind, dass man sie nicht mehr anheben kann.

F: Wie hat sich Ihr Bezug zu der Krankheit MS bzw. zu den rund 10’000 Betroffenen in der Schweiz während des Schreibens Ihres Buches verändert?

A: Ehrlich gesagt, gar nicht – für mich sind die Grenzen zwischen gesund und krank, normal oder verrückt und so weiter ohnehin recht durchlässig, und immer schon gewesen. Jeder hat „etwas“, manche können es nur besser verstecken. Das ist meine Erfahrung.

Ist es nicht lustig, wie oft ich „ehrlich“ sage um die Erfindung zu erklären? Tatsächlich habe ich einfach „gewusst“, wie Nevada sich fühlt, ich habe ihre Symptome gespürt, ich habe gesehen, wie sie sich in der Mitte der Treppe auf eine Stufe setzt. Ich habe einen Roman geschrieben, keine Reportage. Interessanterweise gelten diese Ansprüche – Es ist gut recherchiert, es ist genau so passiert, es ist wahr – heute immer mehr für Romane und immer weniger für den Journalismus. Mich persönlich interessiert das nicht. Wenn mich eine Geschichte packt, glaube ich sie. Dann lege ich das Buch nicht aus der Hand, um die Fakten im Internet zu überprüfen. Anders gesagt, Nevadas Erfahrung ist ebenso wahr wie die jeder einzelnen Betroffenen, die ich am Wochenende kennengelernt habe. Und so wird sie auch gelesen.

Und was unterschied nun den Workshop am letzten Wochenende von anderen Kursen? Ich weiss es nicht. Vielleicht, dass wir etwas längere Pausen einlegten? Die allen Teilnehmern gemeinsame Diagnose war in der Begrüssungsrunde noch ein Thema, nachher nicht mehr. Ich selber hatte es noch vor der Mittagspause vergessen. Wir waren eine Gruppe von Schreibenden. Das ist die Gemeinsamkeit, die sich durchsetzt, nicht nur in diesem, in jedem meiner Kurse. Dieses Bewusstsein „Ich bin jemand der schreibt“ verdrängt in kürzester Zeit alle Unterschiede und Bedenken. „Ich bin die einzige, die noch nichts veröffentlicht hat“- „Die anderen sind alle so jung“ – „Die anderen sind alle so alt“ – „Um Gotteswillen, hier sind ja nur Frauen!“ Egal, Wir schreiben. images-2

 

Über die neuesten Blogbeiträge informiert bleiben

  • Dieses Feld dient zur Validierung und sollte nicht verändert werden.

Leser-Interaktionen

2 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    Liebe Milena
    „Wenn mich eine Geschichte packt, glaube ich sie“, schreibst du in deinem Input „Die Wahrheit und andere Erfindungen“. Ich auch. Ich glaube eine Geschichte auch, wenn sie mich packt. Doch was, wenn mich ein Buch zwar packt, aber mich, nachdem ich es fertiggelesen habe, mit einem schalen Gefühl zurücklässt? Mehr noch, wenn ich mich irgendwie betrogen fühle, geprellt, aber nicht weiss, warum?
    Noch vor ein paar Jahren ärgerte ich mich ein bisschen über ein solches Buch, dann legte ich es weg und dachte nicht weiter daran. War ja nur ein Unterhaltungsroman. Nicht wichtig. Es gab eine Zeit in meinem Leben, da las ich Bücher meterweise. Ich erholte mich auf diese Art, wie andere sich vor dem Fernseher erholen. Ich wollte in spannende Geschichten eintauchen, um mich vom Alltag abzulenken. Seit ich selber Geschichten schreibe, ist das anders geworden. Ich habe höhere Ansprüche: Heute zählt für mich jedes Buch.
    Durch das Schreiben habe ich viel gelernt. Ich merke, wenn eine Handlung zurechtgebogen werden musste, um einen Plot zu erfüllen. Wenn ein Romanstoff, für den schon 200 Seiten zu viel sind auf 800 ausgedehnt worden ist und umgekehrt. Oder wenn ständig voraussehbar ist, was als nächstes geschieht. Ich lege jetzt manchmal ein Buch weg, bevor ich es zuende gelesen habe. Über Wiederholungen von Wörtern und Wendungen, verdrehte Satzstellungen um der poetischen Wirkung willen und fehlerhafte Formulierungen, die aus Bequemlichkeit nicht ersetzt wurden, kann ich ernsthaft in Wut geraten. Ich will sorgfältig ausgearbeitete Bücher lesen.

    Aber was, wenn auf den ersten Blick nichts von alldem ersichtlich ist? Wenn mir die Sprache eigentlich gefällt? Oder wenn ich mir nicht sicher bin, ob das, was mir daran nicht gefällt, vielleicht nur Geschmackssache ist? Schriftstellerische Freiheit? Oft verwendete Wörter zum Beispiel, die ich selbst nie brauchen würde, weil sie nicht zu mir passen? Oder andersherum: Wenn ich Ähnlichkeit mit meiner eigenen Art zu schreiben oder an ein Thema heranzugehen, erkenne, das Unbehagen aber trotzdem da ist? Was dann?
    Zwei Bücher dieser Art habe ich in letzter Zeit gelesen. Beide verkauften und verkaufen sich gut und wurden im Radio besprochen.
    Dann ist es Neid!
    Ja. Was denn sonst? Noch bis vor kurzem konnte man mich mit diesem Argument mühelos mundtot machen. Mittlerweile halte ich es für etwas armselig. Möglicherweise spielt Neid mit, das streite ich nicht ab. Doch auch wenn sich durch mein eigenes Schreiben mein Zugang zu Büchern geändert hat, und ich sie nicht mehr gleich meterweise verschlinge, bin ich doch nach wie vor eine leidenschaftliche Leserin. Ich liebe Bücher. Und noch mehr liebe ich es, über das, was ich gelesen habe, nachzudenken. Deshalb habe ich mir einen der beiden oben erwähnten Romane vorgenommen in der Hoffnung, den Grund für mein Unbehagen herauszufinden.

    Erstens, das stellte ich rasch und mit Erstaunen fest, war es mir nicht möglich, mir die Ich-Erzählerin so vorzustellen, wie sie von der Autorin beschrieben wurde: Als schwarzgelockte, schlanke Frau. Ständig hatte ich das Bild der kurzhaarigen, rundlichen Autorin selbst vor meinem inneren Auge, so wie sie auf dem Autorenfoto im Buch zu sehen war. Dann muss ich für eine Weile nicht mehr darauf geachtet haben, denn gegen den Schluss stellte ich plötzlich fest, dass ich mich nun selber in der Rolle der Ich-Erzählerin sah und keine Ahnung hatte, seit wann. Da das Buch in einer glücklich ausgehenden Liebesgeschichte mündete, war mir das ziemlich peinlich. Was sagte diese unabsichtliche Identifikation über mich aus?? Doch zum Glück war sie mir rechtzeitig bewusst geworden, weshalb ich bequem rekonstruieren konnte, bei welcher Gelegenheit ich – ohne das Geringste zu merken – in diese Falle geriet. So bin ich nun hoffentlich für ein nächstes Mal besser gewappnet!

    Zweitens fiel mir plötzlich auf, dass ich während des Lesens für eine der Nebenfiguren Partei ergriffen hatte und zwar recht vehement. Sie äusserte mehrmals spontane Gedanken, was bei den anderen, vor allem aber bei der Ich-Erzählerin, gar nicht gut ankam, da es den Eindruck von Pietätslosigkeit erweckte. (Im Sinn von „So etwas sagt man nicht!“) Solch ein unterschwelliges „Meinungsäusserungsverbot“ ruft bei mir Widerstand hervor, das ist mir nicht neu. Bedenkenswert fand ich hingegen: Die Ich-Erzählerin selbst hatte auch ständig pietätslose Gedanken. Der springende Punkt war aber, dass sie diese Gedanken für sich behielt. Im geschriebenen Text wird alles nebeneinander sichtbar: Was getan, was gesprochen und was gedacht wird. Alles erscheint sozusagen auf einer Ebene, auf dem Papier. Dennoch sonderte mein Gehirn die Gedanken offenbar automatisch aus, denn Gedanken sind ja bekanntlich frei. Oder etwas anders ausgedrückt: Was man denkt, zählt nicht. Denken kann man, was man will, wichtig ist nur, was man sagt und tut.

    Drittens kam, als ich den Roman zum zweiten Mal las, das deutliche Gefühl in mir auf, die Ich-Erzählerin habe ihren Nebenfiguren gegenüber eine abschätzige Haltung. Dafür Belege zu finden, erwies sich aber als ausserordentlich schwierig. Grund dafür war, wie ich irgendwann dann doch feststellte, dass die Taxierungen, die sie vornahm (auch in Gedanken), fast ausschliesslich positiven Inhalts waren oder wenn nicht, wurden sie sehr sachlich und nachvollziehbar vorgebracht. Im Sinn von: „Man muss nicht jeden und jede toll finden, ein gewisses Mass an Abgrenzung ist nicht nur legitim, sondern nötig.“
    Wirklich gehässige Taxierungen von Seiten der Ich-Erzählerin kamen im Text selten vor, und noch seltener wurden sie laut geäussert. Voraussetzung für eine gehässige Taxierung war – aber das ist nur eine Vermutung – die absolute Überzeugung der Ich-Erzählerin, im Recht zu sein. Zum Beispiel: Wer sich im strömenden Regen, ohne unter einem Schirm zu stehen, die Nase neu pudert ist ein bisschen gaga, das kann niemand bestreiten. Darüber kann man einen Witz reissen, ohne sich etwas zu vergeben.

    Der vierte Punkt ist mein eigenes Problem: Der Ich-Erzählerin wurde viel Vertrauen entgegengebracht, sie wurde um Rat gefragt und für Jobs ausgewählt, die ein sehr hohes Verantwortungsbewusstsein erforderten. Das möchte ich auch. Zudem hatte sie wunderbare Freunde, die jederzeit zur Stelle waren, wenn sie Hilfe brauchte. Ohne dass sie sie je darum bitten musste! Manchmal wurde ihr die Bemutterung sogar fast ein wenig zu viel. Aber natürlich war sie trotzdem von Herzen dankbar.
    Diese beiden inhaltlichen Tatsachen – eine allseits geachtete Persönlichkeit zu sein, deren Fähigkeiten anerkannt und geschätzt werden, und zugleich treue Freunde zu haben, die von selbst merken, wenn sie gebraucht werden – machten mich viel neidischer, als die äussere Tatsache, dass das Buch selber sich besser verkauft als mein eigenes! Das ist schon etwas seltsam, finde ich. Ich bin neidisch auf die Hauptfigur in einem Roman!

    Zum Schluss noch ein paar Gedanken zur schriftstellerischen Freiheit:
    Grundsätzlich kann man ja in einem Roman alles geschehen lassen. Aber: Ist alles, was möglich ist, auch sinnvoll? Muss ein Roman überhaupt Sinn machen? Wie viel Freiheit auf dem Papier habe ich als Schriftstellerin tatsächlich bzw. wem (oder was) bin ich allenfalls verpflichtet?
    Ich halte diese Fragen für wesentlich.

    Im oben erwähnten Romanbeispiel passiert ein Unfall, der sich als Mordversuch herausstellt. Das Opfer wird ins Spital gebracht, die Figur, die den Mordversuch gestanden hat, in Untersuchungshaft genommen und eine weitere Figur, die im Vorfeld des Mordversuchs mit dem Opfer eine kurze Liebesbeziehung unterhalten hatte, entfernt sich aus eigenem Antrieb vom Schauplatz des Geschehens.
    Normalerweise sorgt ein Mordfall in einem Roman für mehr Dynamik. Hier empfinde ich das nicht so. Aufgrund dieses Mordversuchs werden die drei meiner Meinung nach unbequemsten und gerade deshalb interessantesten Figuren des Romans aus der Handlung abgezogen. Das finde ich schade und erlaube mir deshalb die Frage, ob nicht ein Mord, den einem die Phantasie zwar aufdrängt, der aber eigentlich keine wesentlichere Funktion hat, als die eines bedauerlichen Zwischenfalls, bei aller schriftstellerischen Freiheit nicht einer genaueren Prüfung bedürfte, weil es sich möglicherweise um ein Ausweichmanöver handeln könnte? Das Gehirn spielt uns ja mitunter die verrücktesten Streiche!
    Liebe Grüsse
    Regula

  2. Hans Alfred Löffler meint

    “Um Gotteswillen, hier sind ja nur Frauen!” Gottseidank, möchte ich anfügen, ohne Anführungs- und Schlusszeichen, dafür noch etwas sagen, schreiben, denn auch ich konnte meine Beine plötzlich nicht mehr bewegen, es war einmal:
    Wir verbrachten die Wochenende oft auf einem Bauernhof, mein Bett war unter dem Dach.
    Einen Fernseher gab es nicht, aber Jasskarten und Sebstgebrannten.
    Gute Nacht! Guten Morgen? Ich wollte mich auf die Seite drehen, ging aber nicht. Ich wollte die Beine anwinkeln, ging auch nicht. Sollte ich schreien? Hilfe? Und wenn jemand käme sagen; ich bin gelähmt, die Beine, ich kann die Beine nicht bewegen!
    Ich hatte nicht geträumt, geschlafen schon, war aber noch nicht richtig wach. Die Diagnose stellte ich mir selber:
    Beide Fusssohlen fest mit dem Fussbrett verwachsen, Farbe am Fussbrett noch nicht ganz trocken.

An der Diskussion teilnehmen

Hier können Sie Ihren Kommentar schreiben. Ihre Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * bezeichnet.