Dr. Mizrahi muss sterben. Muss er?

TG-in-Chicago-Hope-thomas-gibson-10183893-1600-2367Eigentlich wollte ich heute Karins Frage nach der „postnatalen Depression“ beantworten. Mit Ja beantworten: Ja, natürlich kenne ich das auch. Dieses Gefühl der Leere, wenn die Figuren sich verabschieden. Diese Verlorenheit beim Auftauchen aus einer anderen Dimension. Man reibt sich die Augen und schaut sich um: Wo bin ich denn hier? Und was soll ich jetzt mit mir anfangen?

Doch ich kam gar nicht dazu. Erstens war ich immer noch krank. Und dann hatte ich einen Stapel von Aufträgen abzuarbeiten. Nur einmal, im Zug, der automatische Griff nach dem Taschencomputer und dann der Gedanke: Du musst ja gar nicht arbeiten. Du bist ja fertig. So sass ich dann und schaute aus dem Fenster und dachte: Man könnte auch lesen. Oder winzig kleine Videos auf dem Handy anschauen. Von Bierflaschen, die ins Meer fallen. Oder einfach nur Zug fahren. Einen Moment blitzte etwas auf. Da, wo der Roman gewesen war, diese andere Dimension, dieses doppelte Leben, war jetzt ein Fenster. Und hinter diesem Fenster zog eine Landschaft vorbei, zu schnell, als dass ich sie erkennen konnte.

Das war auch letzte Woche, beim social media workshop, den ich schon erwähnt habe, ein Thema. Wir lernten sehr viel in sehr kurzer Zeit, die meisten von uns waren von der Fülle der Möglichkeiten überwältigt und auch leicht überfordert. Die grösste Frage, die sich uns stellte war die: Wenn wir die sozialen Medien maximal nutzen, haben wir keine Zeit mehr um zu schreiben. Was vermarkten wir dann, wenn wir keine Bücher mehr schreiben können? Doch die Zeit ist nur ein Faktor. Wenn ich mir vorstelle, dass ich Buchblogs nach Besprechungen meiner Bücher durchforste, dann weiss ich, dass ich dabei nicht nur die Zeit verlieren würde, die ich zum Schreiben brauche, sondern auch den Mut dafür.

Den Mut auch, so zu entscheiden, wie es die Geschichte verlangt.

Zwei Tage später hatte der Verleger schon alles gelesen und korrigiert. Ich sollte jetzt die Korrekturen noch einmal durchgehen, zwei grössere Streichungen bedenken, hier und da etwas ergänzen. „Schaffst du das bis Montag?“, fragte er. Ich schluckte leer. Bis Montag? „Mal sehen“, sagte ich. Und wusste doch schon, dass ich mich auf diese an sich absurde Deadline stürzen würde. Fenster zu! Wieder eintauchen! Untertauchen! Yippie!

„Ihre Depression verkehrt momentan mit einer Verspätung von vier Tagen. Wir bitten um Ihr Verständnis!“

Ausser meinem Verleger hat bisher nur eine Person das Manuskript gelesen, meine Schriftstellerfreundin K.Pie. Sie reagierte auf eine Nebenfigur so:

in einem kurzen Anfall, der nur durch die Erwähnung der betörenden Schönheit des Dr. Mizrahi ein wenig gedämpft wurde- dachte ich, dass du mich portraitiert hast. Dieser versessene Fanatismus. Dieses: „sie müssen mich nicht mögen, aber“….
Rückzug auf die Sache selbst, Verachtung der kommunikativen lieux communs…..
Alle Emotion, die ihm bestritten wird, legt er in die Rettung von Patienten-
kann ein emotionsloser Mensch so viel Kraft in seine Arbeit stecken?
Ist Obsession keine Emotion? Alles was sie über Asperger sagen, ist falsch.

Mein Verleger hingegen: Wenn man bei dir nicht aufpasst, also wirklich! Holst du dir noch einen Asperger-Arzt. Das ist zu viel, weg mit dem, verboten! Brauchts auch überhaupt nicht.

Und ich? Was tue ich jetzt? Ich weiss es nicht. Der Arzt hat sich tel quel zwischen die Zeilen gedrängt. Ich weiss nicht, ob ihn wieder rauswerfen könnte, selbst wenn ich es wollte. Erklären oder gar begründen kann ich seinen Auftritt nicht, noch weniger sein Asperger Syndrom. Ist einfach so.

Ich überprüfe jeden Einwand, indem ich mich ihm noch einmal Zeile für Zeile nähere. Nur so merke ich, ob diese oder jene Szene, dieser Satz, dieses Wort da hingehört oder nicht. Egal wie ich entscheide, irgendjemandem wird es nicht gefallen. Damit muss ich leben. Und das kann ich nur, wenn ich weiss, dass ich die richtige Entscheidung für die Geschichte getroffen habe. Und das wiederum erkenne ich daran, dass die Geschichte mich in Ruhe lässt. Dass ich keine verschwommenen Bilder mehr sehe, keine Satzfetzen mehr im Kopf hin und her drehe, keine Stimmen mehr höre. Gar nichts mehr höre.

Dafür muss es still sein.

 

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5 Kommentare

Kommentare

  1. Hans Alfred Löffler meint

    Es jetzt still, vielleicht auch spät, jenachdem. Es ist weder falsch noch verboten, dieses Asperger Syndrom dem «betörend schönen» Herrn Dr. Mizrahi anzudichten, denn: «Acht von neun Betroffenen sind männlich» wie die Forschung erst kürzlich herausgefunden hatte, und Du vielleicht schon immer wusstest, als Frau die Du bist. Und bitte stell‘ Dich nicht auf die vordere Sitzbank des Autos, wenn Du «quer durch Amerika» fahren könntest, ich hatte das in einem Music Video am TV gesehen; vielen Dank für das Lesen …

  2. Gilg meint

    Wow,wie mutig!ein arzt mit asperger-syndrom in einem roman erscheinen zu lassen!theoretisch nahe zu unmöglich,praktisch………!lassen sie ihn leben,kommentare hin oder her.seit 30 jahren mit einem chirurgen verheiratet, als psychologun kenn ich die theorie über asperger,als ehefrau den ganz normalen alltag.also, lassen sie ihn leben, es gibt diese figur auch real.liebe grüsse an den verleger und vorallem an sie. Ruth gilg

  3. Gisella meint

    Liebe Milena,
    Dein Buch oder deine Art zu schreiben macht auf jeden Fall Lust auf`s Leben. Auf`s Lesen wollte ich sagen. Aber ist ja grad Beides gut so.
    Vorallem wenn die äussere Welt auf Innere Welten stosst, wie wir im wirklichen Leben, ja auch immer wieder damit konfrontiert werden.
    Nur dass es dann bei Dir so leicht „leichtflüssig“ daher kommt, gefällt mir. LG Gisella Sutter

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