Go with the flow

Ich versuche mir den Morgen freizuhalten. Zum Schreiben. Oder wenigstens zwei Stunden jeden Morgen. Das ist eigentlich meine beste Chance. Der Rest des Tages rinnt mir durch die Finger, vor allem jetzt, kurz vor Erscheinen des neuen Buches, wo ich wieder mehr Termine habe. Manche Tage sind bis abends spät verplant. Und manchmal kommt auch morgens noch etwas dazwischen. Es fällt mir schwer, meine Stunden festzuhalten. Meine Mutter zieht um. Ich helfe ihr beim Räumen. Eine Freundin ist „in town“, Katchie, eine Yogalehrerin aus San Francisco. Sie lädt mich in ihren Intensivkurs ein, eine Gelegenheit, die sich vielleicht im Mai wieder bieten wird, oder irgendwann im nächsten Sommer. Natürlich nehme ich die Einladung an – auch wenn ich weiss, dass ich an diesem Tag von morgens um sieben bis abends um elf nonstop unterwegs sein und kaum auch nur in die Nähe meiner 10’000 Zeichen kommen werde….

Egal. Ich erlaube mir dieses Abweichen vom Plan, weil ich es mich seit dem Vorabend, seit dieser junge Mann im Wartezimmer von Nevadas Neurologen aufgetaucht ist und etwas ungeschickt versucht hat, sie in ein Gespräch zu verwickeln, wieder mit Macht an den Schreibtisch zieht. Ich erlaube mir also, aufzustehen, weil ich lieber sitzen bleiben würde.

Das Gefühl verstärkt sich noch, als ich am selben Morgen in der Zeitung über einen jungen Schriftsteller lese, der einen Hirntumor hat – exakt wie „Nevadas junger Mann“, auch wenn der noch kein Buch veröffentlicht hat! Ich bin jetzt schon so tief in meiner Geschichte drin, dass ich sie auch dann nicht verlasse, wenn ich vom Schreibtisch aufstehe.  Die sogenannte Realität, in der ich mich dann bewege, arrangiert sich um meine Geschichte herum, in meine Geschichte hinein. Wie eine Schwangere (- oder eine Frau mit unerfülltem Kinderwunsch?), die auf der Strasse nur dicke Bäuche sieht, sehe ich überall Momente aus meiner Geschichte aufblitzen. Zwei junge Mädchen am Bahnhof, eine rutschige Treppe, eine Schlagzeile im Vorübergehen, ein bestimmtes Licht, ein halber Satz, mit einem Ohr nur aufgeschnappt.

Der real existierende Schriftsteller übrigens schreibt einen Blog über seine Krankheit. Es wäre naheliegend, da gleich nachzulesen, wie es einem jungen Mann mit so einem Ding im Kopf geht – aber genau das tue ich nicht. In dieser Phase bin ich viel zu durchlässig, um zu recherchieren. Der realexistierende Hirntumor würde in meiner Geschichte weiterwuchern, das kann ich nicht zulassen. Ich muss die Dinge so aufschreiben, wie sie sich mir zeigen. Ich darf mich nicht irritieren lassen. Recherchieren tue ich erst viel später, wenn die Geschichte steht, wenn ich weiss, dass ein gezieltes, vorsichtiges Überprüfen einzelner Details keine Flucht vor dem Schreiben, kein Ausweichen mehr sein kann.

Zum Beispiel landet ja eine meiner Montagsmenschen in Untersuchungshaft. Ich kannte das Gefängnis nur aus dem Fernsehen. Trotzdem schrieb all diese Szenen so, wie ich sie vor mir sah – obwohl ich beim Schreiben schon wusste, dass ich den orangefarbenen Overall aus einer amerikanischen Krimiserie übernommen hatte. Aber der Overall war nicht ausschlaggebend. Wichtig war, was Poppy fühlte, als sie ihre eigenen Kleider ablegte und die ihr ausgehändigten schlüpfte: Erleichterung. Viel später, vor der zweiten oder dritten Überarbeitung, besuchte ich das neue Untersuchungsgefängnis in Lenzburg und ersetzte dann den orangefarbenen Overall durch blaue Trainingshosen. Eine Petitesse, würde Dr. F. sagen. Nicht unwichtig, aber auch nicht bestimmend. Hätte ich das Gefängnis früher besucht, hätte sich die eine Realität in die andere gedrängt und sie verändert. Und ich hätte weiss Gott wie viele Schreibstunden verloren.

Ich gönne mir also den Yogamorgen, packe den Computer aber trotzdem ein, mein Notizheft und einen Stift. Während der Lektion sagt Katchie etwas über Kettenreaktionen. Ich weiss gar nicht mehr in welchem Zusammenhang. Irgendetwas über Aufmerksamkeit, negative Aufmerksamkeit, die sich „wiederholt und wiederholt wie ein schlechter Apfel – sagt man das? Schlechter Apfel?“

„Schlechter Film!“ ruft jemand, aber wie immer war die „falsche“ Formulierung die richtigere und plötzlich weiss ich, woher diese Risse in meinen Figuren kommen, diese Abgründe. Sie sind aus einem schlechten Apfel gewachsen. Während die anderen versuchen, sich auf den Kopf zu stellen, liege ich auf meiner Matte auf dem Bauch und kritzle fieberhaft in mein Heft. Spät abends auf der Heimfahrt im Zug übertrage ich diese Notizen in den Computer. Nur 1442 Zeichen, und reine Zusammenfassungen, wie: Ihre Mutter konnte  ihr Potential nicht nutzen/ Machtausübung in der Familie/Mann? Vielleicht eine Fabrik?

Diese Zusammenfassungen dienen mir am nächsten Tag als Sprungbrett. Ich halte den Atem an und stürze mich tapfer in das eiskalte Wasser von Erikas Kindheit. Ich tauche tiefer und tiefer in das Leben ihrer Mutter ein, es wird immer dunkler, wie weit muss ich noch gehen? Ob das Teil der Geschichte ist, oder Hintergrundmaterial, das ich nur für mich brauche, keine Ahnung. Ich frage nicht, ich schreibe. Und wenn mir die Luft ausgeht, schiesse ich an die Wasseroberfläche, ans helle Licht, wärme mich im Wartezimmer des Neurologen auf…

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Leser-Interaktionen

5 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Haus-Horlacher meint

    Ein Hirntumor! Milena, NEIN!!
    Lass es ein Irrtum sein! Eine Fehldiagnose. Ein falscher Griff in die Requisitenkiste –
    Denk an Flip! Den lieben, lustigen Flip! Das halten wir nicht noch einmal aus!
    BloggerInnen aller Länder vereinigt euch! Skandiert! Oder betet wenigstens jeden Morgen zwanzig Minuten bei Kerzenlicht und Schubert. Egal was, aber TUT ETWAS!

    Oh, wüsste ich doch nur das Zauberwort –

    Milena, dich kann man einfach nicht allein lassen!
    Nun ja, mich eigentlich auch nicht.

    Morgen beginnt mein Praktikum. Dann arbeite ich fünf Tage die Woche. Letzte Woche habe ich geübt, nach Feierabend noch zu schreiben. Es ging ganz gut. Keine Angst. Keine Angst.

    Ganz liebe Grüsse
    Regula

  2. Karin Braun meint

    Und da denken die Meisten immer SchriftstellerInnen führen ein beschauliches Leben. Sitzen den ganzen Tag im Morgenmantel am Computer und trinken Champagner. :-)
    Danke für den Einblick. Alles Liebe aus Kiel
    Karin

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