Kaugummi von der Strasse

„Wenn du schreiben willst, musst du eine unglückliche Kindheit gehabt haben“, sagte der Student, mit dem ich in meiner ersten WG zusammenwohnte. Wir waren drei Buchhändlerstifte und ein Student. Wir gingen arbeiten, er machte den Haushalt. Ich war vielleicht achtzehn, neunzehn Jahre alt, allein mit drei Männern. Sie vergassen bald, dass ein Mädchen unter ihnen war, behandelten mich wie einen von ihnen. Das ging so weit, dass ich an einer Party einen jungen Mann im Bad einsperrte, damit einer meiner WG-Kollegen sich an seine Freundin heranmachen konnte. „Du bist total vermännlicht“, entsetzte sich eine Freundin, und von da an verbrachte ich die Wochenenden unter Frauen. Aber ich bin schon wieder abgeschweift. Ich wusste damals schon, dass ich eigentlich Schriftstellerin werden wollte. Das muss ich auch ganz offen erzählt haben, obwohl ich in meiner Erinnerung immer zu schüchtern dazu war. Aber wir haben schliesslich darüber gesprochen. Der Student hatte selber mit dem Gedanken gespielt, zu schreiben, hatte sich aber dagegen entschieden. Er habe nichts zu erzählen, sagte er. Ein Schriftsteller müsse zwingend eine unglückliche Kindheit gehabt haben, in materieller Armut oder emotionaler Verwahrlosung oder beidem aufgewachsen sein. Das Schreiben, sagte er, sei nichts anderes als ein immer wieder neues Aufkratzen dieser alten Wunden. Sie zum Bluten zu bringen, auf dass sie Geschichten absondern. „Ohne Verletzungen keine Geschichten“, sagte er. Seine vergleichsweise glückliche Kindheit mache ihm vielleicht das Leben leichter, den Traum von der Schriftstellerei aber unmöglich: „Dass ich als Kind Kaugummi von der Strasse gekratzt habe, gilt in diesem Zusammenhang nicht!“

Nun hätte er natürlich die Möglichkeit gehabt, sich als Erwachsener ins Unglück zu stürzen – wie so viele andere behütet aufgewachsene junge Menschen auf der Suche mehr, nach Intensität, nach Substanz, nach erzählenswerten Erlebnissen es tun. On the road, wie war das noch gleich? Sex, Drogen, Kerouac! Er erwog diese Möglichkeit ganz ruhig, am Küchentisch sitzend, rauchend – zu anstrengend, beschied er. Ich bewunderte ihn dafür. Dieser Selbsterhaltungstrieb fehlte damals vielen. Wir fanden es irgendwie aufregend, unglücklich zu sein. Es war vor allem anstrengend.

Wer nichts erlebt, hat nichts zu erzählen – stimmt das? Stimmt das nicht? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass jeder Schriftsteller in seinen eigenen Worten ein ähnliches Lebensgefühl beschreibt. Diese ganz frühe Gewissheit, nicht dazu zu gehören. Nicht zu sein wie die anderen. Aus Versehen auf dem falschen Planeten gelandet zu sein, oder, schlimm genug, in der falschen Familie. Das Leben der anderen wie durch eine docke Glasscheibe zu betrachten. Dieses verzweifelte Bemühen, herauszufinden, wie es die anderen machen. Wie sie funktionieren, miteinander Verbindung aufnehmen, wie sie leben. Sie ständig genau zu beobachten, sich selbst zu beobachten, ist eine Notwendigkeit. Ist überlebenswichtig. Diese Beobachtungen aufzuschreiben, ist der naheliegende nächste Schritt. Der Schriftsteller ist nie ganz bei sich, er steht im Gegenteil immer einen Schritt neben sich. Der Zugang zum Hier und Jetzt bleibt ihm verwehrt, da kann er lange mit dem Bleistift anklopfen.

Mein WG-Partner hatte Recht und Unrecht zugleich. Die Wunde, in der der Schriftsteller mit seinem Bleistift stochert, ist keine sichtbare. Und keine, die man sich im Nachhinein zufügen kann.

Ich habe meine Kindheit nicht per se als unglücklich erlebt, ich war einfach ein sehr unglückliches Kind. Warum? Warum nicht. Mein Bruder, in derselben Familie aufgewachsen, beschreibt seine Kindheit als glücklich. Schriftsteller ist er trotzdem geworden.

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4 Kommentare

Kommentare

  1. Karin meint

    Hmm, meine Kindheit war schön. Mit der Pubertät wurde es Scheiße. Frank Mccourt hat einmal gesagt: Natürlich hatte ich eine schlechte Kindheit. Eine gute lohnt sich nicht.
    Ich weiß nicht ob ich ihm da zustimme. Die Sicher- und Freiheit meiner Kindheit plus der Geborgenheit hat mir viel gegeben über das es sich zu schreiben lohnt.
    Alles Liebe Karin

  2. Isabel meint

    Wenn ich an meine Kindheit zurück denke, so drängt sich prominent ein Gedankte bei mir auf: ich muss sehen, dass ich irgendwie alleine zurecht kommen kann. Mein Glück, mein Unglück will ich nicht von anderen abhängig machen. Für schwierige Zeiten gab’s Rituale, mit denen man nötigenfalls Gott beschwören konnte, zumindest zu den Zeiten, als ich mich noch nicht gefragt hatte, wer oder was Gott eigentlich ist. Es gab die Märchen, eine ganze Sammlung aus verschiedenen Ländern, in denen alle Sorten von Ereignissen enthalten waren, und auch zum Teil sehr radikale Lösungen. Und dann gab es den Garten. Ich träumte jede Nacht, und es waren auch böse Träume. Dann konnte ich mich im Traum auf den geträumten Boden legen, und landete im Garten.

    Fremd habe ich mich oft gefühlt, und tue es immer wieder und oft ganz unberechenbar. Aber ich habe gemerkt, dass es vielen Menschen so geht, vielleicht ist diese Form von Unwohlsein sogar ein ständiger Begleiter, wenn man vertrautes Terrain verlässt und sich in Neues begibt.

    Schreiben ist für mich ein Refugium, ähnlich wie der Garten. Dort bitte ich zu Tisch und erlaube, was geschehen darf. Jeder kann mir seine Geschichte erzählen, und ich ermutige jede; ich höre zu, ich tröste nicht, vielleicht provoziere ich ein wenig, im Gespräch mit meinen Figuren. Ich frage viel. Neulich ist eine wirklich böse Figur aufgetaucht, und dann habe ich mich an eine Geschichte erinnert, die ich auch meinen Kindern vorgelesen habe, von dem Mädchen, welches im Wald einem grossen Angstdrachen begegnet und ihm nicht ausweichen kann: man muss ihm in die Augen gucken, und dann bietet man ihm eine Tasse Kaffee und ein paar Kekse an, und der Drache wird immer kleiner….(so kann man natürlich mit dem Schreiben keinen grossen Spannungswurf machen, aber das Ganze hört doch immerhin mit einem Lächeln auf!)

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