Künstlerbeschimpfung

Mein Vater wurde einmal an der Grenze erwischt, als er ein Bild eines befreundeten Malers in die Schweiz schmuggeln wollte. Es lag in eine Wolldecke gewickelt im Kofferraum, und er hatte es nicht verzollt. Der Beamte hielt das Bild hoch, drehte es um 180 Grad, schaute noch einmal darauf. Es war ein abstraktes Gemälde. „Was soll denn das sein?“, fragte er schliesslich. Und mein Vater: „Nichts.“

„Nichts? Ja, dann kostet es auch nichts.“

Mein Vater fuhr unbehelligt weiter. Das Bild hing noch lange irgendwo an einer Wand. Doch eigentlich wollte ich etwas anderes erzählen von meinem Vater, der ja auch Schriftsteller war. Und von dem ich die wichtigste Lektion überhaupt gelernt habe: Schreib nicht für die anderen. Schreib für dich.

Gesagt hat er mir das so nie. Aber das war die Botschaft, die ich ganz klar aus meinen Beobachtungen gezogen habe, als Kind.  Ich habe ihn beobachtet, mit seinen Schriftstellerkollegen, wie sie zusammensassen, tranken, redeten. Über die anderen. Immer über die anderen, die gerade nicht Anwesenden. Ihre Worte waren gehässig, unangenehm, schrill, sie schwirrten wie kleine Mücken um die Köpfe und liessen sich auch vom immer dichteren Dichterrauch aus Pfeiffen und Zigarren nicht vertreiben. Die Anwesenden wechselten, der Ton blieb derselbe. Wenn alle gegangen waren, schloss sich mein Vater wieder in seinem Arbeitszimmer ein, um nicht zu schreiben.

Schon als Kind wusste ich: Das kann es nicht sein. Ein Kind weiss nicht genau, warum etwas nicht gut ist, nicht stimmt. Aber dass es nicht gut ist, nicht stimmt, dafür hat das Kind einen untrüglichen Instinkt.

Dürrenmatt in einem Interview auf die Frage, ob er wisse, dass Max Frisch für den Nobelpreis  nominiert worden sei: „Nein, keine Ahnung. Ich wünsche ihm, daß er ihn kriegt. Er hat das wahrscheinlich sehr nötig. Er braucht einfach diese Bewunderung.“

„Sie nicht?“

„Im Gegenteil. Sie hat mich immer gestört.“

Das kann man glauben oder nicht. Gestorben sind sie schliesslich beide.

„Was sollen die Leute denken“ ist nicht nur die Kandare, die das bürgerliche Leben im Zaum hält. Künstler beissen sich auf diesem kantigen Stück Metall genau so das Maul blutig. Freiheit besteht nicht darin, keinen Chef zu haben. Auf feste Arbeitszeiten, regelmässige Bezahlung zu verzichten. Freiheit heisst, diese Kandare auszuspucken. Zu wissen, zu akzeptieren, dass die Leute denken, was sie denken. Und dass man dieses „was sie denken“ durch sein Tun und Lassen nicht wirklich beeinflussen kann. Ob das bedeutet, die Wäsche am Sonntag aufzuhängen, den Vorgarten in eine blühende Mohnwiese zu verwandeln, ein Bild zu malen, auf dem nichts drauf ist oder ein Stück zu schreiben, das hundert Jahre lang niemand spielen will.

Es geht um das Schreiben, nicht um die Rezeption des Geschriebenen – das war meine Lektion. Sie schützt mich bis heute.

Wer nicht in meiner Familie aufgewachsen ist, kann Schriftstellerbeschimpfungen in entsprechenden Anthologien nachlesen („Dichter beschimpfen Dichter“). Eine andere solche, auf die bildende Kunst bezogene („Künstler beschimpfen Künstler“) habe ich neulich geschenkt bekommen. Ich habe sie wahllos irgendwo aufgeschlagen und landete bei Jasper Johns. Die Hälfte der hämischen Bemerkungen über ihn stammt von… ihm selbst.

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1 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Haus-Horlacher meint

    Letzten Samstag war ich in Bern am Literaturfest. In der Pause zwischen Nachmittags- und Abendprogramm ging ich auf die Bundeshausterrasse. Ich wollte mich ein wenig ausruhen und etwas essen. Der Nachmittag war schwülheiss gewesen und jetzt zogen Gewitterwolken auf, aber ich war nicht in Stimmung, mich allein in ein Café zu setzen. Ich hatte gerade zwei Tabletten gegen eine aufkommende Migräne geschluckt und wartete noch darauf, dass sie zu wirken begannen. Falls es anfinge zu regnen, dachte ich, würde ich mich in den Arkaden unterstellen.
    Obwohl es nach Regen aussah, waren immer noch viele Spaziergänger unterwegs. Die japanischen Touristen fotografierten ausnahmslos das Historische Museum auf der anderen Seite der Aare. Manchmal, dachte ich etwas gehässig – Migräne macht mich reizbar -, genügt es offenbar, am richtigen Ort zu stehen und ein paar Türmchen zu haben.
    Dann setzten sich zwei hübsche, vielleicht achtzehnjährige Mädchen auf die Bank neben der meinen. Es waren Mädchen, wie man sie heute zu Tausenden sieht: mit geschminkten Gesichtern, langen, glatten Haaren, enganliegenden Stretchjeans und kleinen, flachen Schühchen. Sie schwatzten, spielten mit ihren Telefonen herum und vermutlich auch mit den Armbändern aus künstlichen Perlen, von denen jede einige am Handgelenk trug. Jedenfalls musste plötzlich eines davon zerrissen sein, denn es sprangen Perlen zu Boden und verteilten sich auf dem Asphalt vor der Bank. Die beiden schrien auf, lachten, machten aber keine Anstalten, die Perlen aufzuheben, obwohl wie schon gesagt viele Leute spazierten. Ich ärgerte mich. Spatzenhirne! Wussten sie denn nicht, wie gefährlich das war? Zum Glück waren unter den Spaziergängern kaum alte, gehbehinderte Leute! Und während ich mich noch schlecht gelaunt damit beschäftigte, mir mögliche Unfallszenarien vorzustellen, passierte es schon: Eine Gruppe junger Männer kam vorbei und prompt rutschte einer von ihnen aus und stolperte. Beinahe wäre er hingefallen! Verwirrt schaute er um sich. Die Mädchen kicherten. Erklärend deutete die eine auf die Perlen am Boden, dann auf ihre Armbänder. Was sie sagte, konnte ich nicht verstehen, aber der junge Mann schien zu begreifen. Er lachte, salutierte und schloss sich seinen Kollegen, die inzwischen weitergegangen waren, sichtlich gut gelaunt wieder an. Immer noch bohrte es über meiner linken Augenbraue. Konnte das sein?! Fühlte sich der tatsächlich geschmeichelt, weil er von zwei nichtsnutzigen Tussis zum Stolpern gebracht worden war? Sie sammelten die Perlen auch jetzt noch nicht ein! Mir war ein wenig übel, wie immer, wenn ich Migräne hatte. Warum nützten diese Tabletten nichts?! Sonst halfen sie doch immer schnell!
    Es begann es zu regnen, das lenkte mich ab.

    Wenig später lehnte ich am Stützpfeiler eines Arkadenbogens. Der raue Sandstein war noch warm von der Hitze des Nachmittags. Endlich war meine Migräne weg. Mein Ärger verflog. Es goss jetzt in Strömen. Im Marzilibad rannten Leute wie aufgescheucht durcheinander, die Dampfzentrale war hinter der Regenwand kaum zu erkennen. Dreieinhalb Jahre war es her, seit ich dort gelesen hatte, nein mehr, in einer Woche war ja schon September. Es wurde immer dunkler, dabei war erst halb sieben. Auf der Kirchenfeldbrücke gingen die Lichter an. Vor mir an der Brüstung der Bundeshausterrasse öffnete sich scheppernd eine Klappe aus verzinktem Blech. Ein Scheinwerfer ratterte ruckelnd in die Höhe, offensichtlich zahnradangetrieben, der Metallstab, an dem er befestigt war, war mit Zacken versehen.
    Ich mag Bern. Ich mag die Dampfzentrale, das Café Kairo und das PROGR. Man könnte denken, die Art dieser Kulturhäuser sei gewollt, drücke etwas aus, eine Art Lifestyle. Tut sie vermutlich auch. Aber das stört mich nicht. Im Gegenteil, das Nichtperfekte dieser Örtlichkeiten tut meinem überängstlichen, schambehafteten Aargauer Untertanengemüt, das mich selbst in den unwichtigsten Belangen permanent zu Höchstleistungen antreibt, wohl. In Bern nimmt man das, was man hat und macht es nutzbar. Nicht mehr. Und dann konzentriert man sich auf die Inhalte. Was einem sowieso viel mehr interessiert.
    Mir gefällt das etwas Verschlafene. Man geht gern vergessen in Bern. Aber, wenn man in Bern vergessen wird, wird man einfach vergessen, nichts weiter. Das ist angenehm. Und weil viel gedacht wird in Bern, darf man immer auf die Möglichkeit hoffen, in irgendeinem dieser denkenden Hirne irgendwann wieder aufzutauchen. Wie C.A. Loosli* zum Beispiel. Nächstes Jahr werde ich fünfzig Jahre alt. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass ich zu meinem Geburtstag ein Gedicht bekomme, das aus 50 O besteht**. Würde ja auch nicht passen :-) Aber vielleicht eine Rezension über „Das schwarze Sofa“ im Bund. Oder eine Einladung für 52 beste Bücher. Wer weiss –

    Und sonst … na ja, schliesslich und letztendlich schreibe ich für mich selbst. Weil es ganz einfach und in erster Linie das ist, was ich am liebsten mache.
    ;-)

    *„Dr Loosli“, Hommage an C.A. Loosli mit Fredi Lerch, Beat Sterchi, Guy Krneta und dem Duo „schön&fön“ am Berner Literaturfest 2012
    **Beat Sterchi, zum 50. Todestag von C.A. Loosli

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