Reinkarnation eines Textes

Gestern hab ich was Schönes erlebt: An einem Jugendfilmfestival wurde „Angebrannte Fischstäbchen“ von Bettina Setz gezeigt. Der Film basiert auf einer Kurzgeschichte von mir, die vor über 22 Jahren erschienen ist. Trotzdem lief der Film in der Kategorie U-19. Die Regisseurin ist also jünger als der Text. Es war ein seltsames Gefühl, da im Dunkeln zu sitzen, auf einem natürlich total unbequemen Stuhl, und zu warten. „Mein“ Film lief erst gegen Ende des Abends. Ich war ein bisschen nervös. Ich wusste nicht, was mich erwartet, und damit meine ich nicht den Film, sondern ich wusste schlicht nicht mehr genau, wie diese Geschichte ging. Fischstäbchen wusste ich noch, klar, und dass jemand in einem Radiostudio zwischen schweren Archivregalen erdrückt wurde. Aber wer? Warum? Keine Ahnung. Am selben Morgen hatte ich im Radiostudio in Zürich eine neue Staffel Morgengeschichten aufgenommen, und mich an diese Regale erinnert, ich wollte eigentlich nachfragen, ob die überhaupt noch existieren, doch dann reichte die Zeit nicht mehr. Jetzt sass ich im Dunkeln und fragte mich, ob Bettina irgendwo solche Regale zum Filmen gefunden hatte. Ich dachte an die Zeit, in der ich die Geschichte geschrieben hatte und wusste noch genau, wo alle Einzelheiten herkamen – nur nicht mehr, was ich daraus gemacht hatte.

Das fand ich interessant. Denn meist halte ich das Geschriebene für realer als die Realität. Diese scheint sich aber trotz allem zuverlässiger zu verankern. Als ich diese Geschichte schrieb, wohnte ich mit der Kinderbuchautorin Katja Alves zusammen, die damals bei Radio DRS arbeitete. Sie erzählte mir von diesen schweren Archivregalen, die sich gegeneinander zu und voneinander weg bewegen liessen. So könnte man jemanden umbringen, dachte ich sofort, so dachte (dachte? denke!) ich halt. Und wir malten uns auch gleich genüsslich aus, wem dieses Schicksal ganz recht geschähe. Es fehlte uns nicht an Kandidaten, und wenn ich Kandidaten sagte, meine ich selbstverständlich auch Kandidatinnen. In Wirklichkeit gibt es natürlich eine Sicherheitssperre, die das verhindert. Keine meiner Mordmethoden funktioniert real. Zur Nachahmung nicht empfohlen. Aber darum geht es auch nicht.

Wir waren dramatische junge Damen, Katja und ich. Wir waren damals alle dramatisch. Es entsprach dem Zeitgeist. Oder unserem Alter. Wir waren allerdings deutlich Ü-19. Aber irgendwie weniger fokussiert und klar als die jungen Filmemacherinnen und Filmemacher, die gestern im Theater der Künste in Zürich auf der Bühne standen. Wie erwachsen sie mir alle schienen!

In unserer Küche hing damals eine Tafel, auf der „Hass-Charts“ stand. Wir liebten es, nach einem unangenehmen Telefon in die Küche zu stürmen und wortlos die Tafel auszuwischen, einen neuen Namen auf Platz eins zu setzen, schnaubend, die Augen rollend, wortlos. Wartend, dass die andere aufspringen und ebenso dramatisch rufen würde: „Der Hund! Was hat er getan?“ Und wir assen Fischstäbchen. Fischstäbchen mit Kartoffelstock waren Katjas Leibgericht. Und das meines älteren Sohnes, der damals schon auf der Welt war. Ja, ich war jung und unvernünftig und dramatisch und schon Mutter….

Wann habe ich eigentlich zuletzt Fischstäbchen gegessen, dachte ich, im Dunkeln sitzend, und dann fing der Film an. „Die Fischstäbchen sind angebrannt“, sagte vorwurfsvoll ein junger Mann. Genau! Dann fuhr eine junge Frau im Auto durch die Nacht. Ihre Stimme sprach aus dem Off ihre Gedanken aus. Ich erkannte ihre Worte als meine. Obwohl es so lange her ist, dass ich sie geschrieben habe. Obwohl ich heute ganz anders schreibe. Ein eigenartiges Gefühl. Wie wenn man man ein uraltes Foto von sich selber anschaut, ein bisschen gerührt, ein bisschen irritiert. Man schüttelt den Kopf und weiss doch noch, wie toll man diese Pudeldauerwelle damals fand, diese hochgekrempelten Hosenbeine. Manchmal musste ich lachen. Ich erkannte die Sprünge, die meine Gedanken machen, wieder. Sie rührten mich.

Es ist eine Frau, die zwischen den Regalen zerquetscht wird. Es ist also total unfair, dass mir das Etikett der männermordenden Schriftstellerin immer noch anhaftet. Dies nur nebenbei. Ob sie es verdient hat, so zu sterben, weiss ich nicht, aber dass die Erzählerin nicht anders konnte, das leuchtet mir heute noch ein.

Die Geschichte hat übrigens ein Happy End.

Mehr über den Film hier: http://www.studentfilm.ch/aktuell/tags/Angebrannte-Fischstäbchen/

Und, wen es interessiert: In derselben Küche kam mir auch die Idee zur Mordgeschichte „Die Einladung“…

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1 Kommentare

Kommentare

  1. Karin meint

    Bei uns hing der jeweilige Hass der Woche immer auf der Dartscheibe. Gerne auch mit Foto. Letzteres erhöhte die Trefferquote ungemein. :-) Alles Liebe Karin

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