Sprache: Pro und Kontra

Es ist immer dasselbe. Kaum fasst man den Beschluss, regelmässig viel zu schreiben, bricht das ganze Leben über einem zusammen. Das ist ein Naturgesetz. Ich nenne es „Das Kleingedruckte“ und künde es zu Beginn jedes längeren Kurses an: „Wundert euch nicht“, sage ich, „wenn genau in diesem Monat/in diesem halben Jahr alles drunter und drüber geht.“ Die Teilnehmer runzeln die Stirn, haben sie doch extra Platz geschaffen in ihrem Leben. Für diesen Kurs. Für das Schreiben. Warum sollte da etwas dazwischenkommen? Andere nicken, sie haben es in den letzten Tagen schon gemerkt, plötzlich grabscht die Arbeit, die Familie, die Gesundheit mit eifersüchtigem Klammergriff nach einem. Ausgerechnet jetzt. „Das ist normal“, sage ich, was niemanden beruhigt. (Kleiner Gedankensprung zurück an eine Hochzeit vor vielen Jahren. Der Bräutigam – heute der glücklichste Ehemann von allen – war blass und schweissgebadet und von Zweifeln geplagt. „Das ist ganz normal“, sagte ich, und er: „Sorry, Milena, aber „normal“ bedeutet aus deinem Mund rein gar nichts!“)

Zuverlässig erwischt es uns, einen nach der anderen. Und so auch mich. Es scheint, als bäume sich das Leben gegen das Schreiben auf: „Und ich?“ brüllt das Leben. „Hallo?“

Ich lese gerade ein wunderbares Buch von Tim Parks, einem britischen Autor, der mir bisher immer zu geistreich, zu brillant, zu distanziert war. In diesem autobiographischen Werk „Teach us to sit still“ beschreibt er, wie er von einem nicht diagnostizierbaren Blasenleiden in die Knie gezwungen wurde. Im wörtlichen Sinn. Auf den Boden, auf das Kissen. Die Beschreibung seiner Beschwerden ist so detailliert, so genau, dass sie fast nicht auszuhalten ist. Wenn ich das lese, denke ich, ich müsse mir nie wieder Gedanken darüber machen, ob ich zu viel von mir preisgebe….

Sein Leidensweg führt über viele Stationen, bis er schliesslich in einem Meditationszentrum auf einem Kissen sitzt. Was er da erlebt, ist keine Wunderheilung, keine Erleuchtung, sondern nur (nur!) die mutige, genaue, gnadenlose Auseinandersetzung mit sich selbst. So präzise wie seine körperlichen Schmerzen beschreibt Parks die Erleichterung, die ihm diese regelmässigen Momente der Stille verschaffen.

Ich kenne diese Momente. Ich erkenne meine Momente in seiner Beschreibung – und finde damit auch wieder die Bestätigung, ja, wir sind alle eins. Doch das Interessanteste an diesem Bericht ist für mich seine Auseiandersetzung mit der Sprache. Er ertappt sich dabei, wie er jede Empfindung sofort in Worte fasst, diese Worte dann hin und her schiebt, bis ihre Abfolge perfekt scheint. Er feilt an den Sätzen, er baut eine Geschichte. Tagelang poliert er Inhalt und Wortlaut einer Frage, die er dem Meditationslehrer stellen will, oder er entwirft einen immer geschliffeneren, immer schärfer formulierten Beschwerdebrief an die Organisatoren des Kurses. Doch je länger er sitzt, desto weniger Sinn ergeben die Worte, die Worte, die doch seine Identität ausmachen. Als er endlich vor dem Lehrer sitzt und seine Frage stellen darf, an der er drei Tage lang gearbeitet hat, springt nur ein krächzender Frosch aus seinem Hals.

Tim Parks fragt sich, ob er glücklicher wäre, wenn er nicht schreiben würde. Das erschreckt mich derart, dass ich das Buch zuklappe und aufstehe. Das Schreiben ist seit Kindheit mein mein Rettungsanker: Etwas passiert. Etwas Schönes, etwas Schlimmes. Es beschäftigt mich. Es überwältigt mich. Also fasse ich es in Worte. Ich drehe die Worte hin und her, ich stutze sie zurecht, bis ich das, was ich beschreibe, erkennen und einordnen kann. Über den Umweg der Sprache.

Seit einer Weile habe ich diesen zweiten Rettungsanker, vielmehr ein Rettungsboot, ein ankerlos schaukelndes: mein Kissen. Ich setze mich hin und atme, und das, was mich überwältigt, überwältigt mich. Überschwemmt mich. Verzieht sich wieder. Löst sich auf.

Kommen sich diese beiden Mechanismen in den Weg? Kann ich aus dem, was mich beschäftigt, immer noch eine Geschichte machen, wenn ich gleichzeitig versuche, es auf dem Kissen sitzend aufzulösen?

Denn glaubt mir, es gäbe eine gute Geschichte….

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6 Kommentare

Kommentare

  1. Gise Kayser-Gantner meint

    Leben ohne zu schreiben?
    Ich versuch’s ja immer wieder – natürlich nicht freiwillig, sondern aus völlig unwesentlichen Gründen: sozial hilfreich und gut sein, Geld verdienen mit Aufträgen, partnerschaftlich liebevoll sein …
    … ja, das sind doch alles wichtige Sachen!, sagt mein großes Ich – tja, und das kleine Ich grinst sich eins ins Fäustchen und beginnt mit der Untergrundarbeit. Ich merke nichts! Zunächst! Dann eine irritierende leise Unzufriedenheit, die sich immer breiter macht. Dann der innere Knall: Was ist eigentlich los mit Dir? – passiert immer an passender Stelle (viel zu erledigen auf Termin – meine Lieblingsrolle, Wäsche, die sich stapelt, Haus, das dringend geputzt werden muss …)
    Und dann geht mir buchstäblich ein Licht auf: Tage nicht am „Dichterplatz“ gesessen, Tage nicht mehr über Silben nachgedacht, Tage nichts geschrieben. Und dann blickt das kleine Ich völlig zufrieden aus seinem Schneckenhaus auf mehrere Haikus, ausformulierte Sentenzen zu „Inga“, meinem Romanprojekt. Alles läuft rund und ich stehe mit mir gemeinsam und nicht mehr neben mir –
    wie blöd bin ich eigentlich, dass ich das immer wieder zulasse?
    Das könnte der Beginn der nächsten Schreibpause sein. Aber diesmal!n Wild entschlossen“. Gibt es nicht! Jetzt wird geschrieben!

  2. Regula Haus-Horlacher meint

    Am vergangenen Montag flog meine 21-jährige Tochter nach Amerika. Am Sonntag stellte sich heraus, dass wir sie „en famille“ nach Kloten begleiten würden. Der letzte solche Familien-Anlass war ihre Maturfeier gewesen. Er war mir schlecht bekommen. Das ist wörtlich gemeint. Soweit wollte ich es diesmal nicht kommen lassen. Deshalb nahm ich mir vor, den Montagmorgen schreibend zu verarbeiten, und zwar mittels „Ecriture automatique“. Nach den zahlreichen Kostproben im Blog hatte ich ohnehin Lust, diese Art zu schreiben auch einmal auszuprobieren und dachte, dies sei jetzt die passende Gelegenheit dazu. Da ich nicht Tastaturschreiben kann, begannen mich schon bald Arm und Schulter zu schmerzen, und ich merkte, dass ich das nicht allzu lange durchhalten würde. Ich entschloss mich, die Schreibzeit auf eine Stunde zu begrenzen. Die Bilanz waren 9204 Zeichen. Während einer weiteren Stunde tauschte ich die verwechselten Buchstaben aus und setzte Satzzeichen, damit ich den Text auch später noch lesen kann, falls ich das einmal will. Es erstaunte mich sehr, dass ich beim Korrigieren kaum auf nicht zu Ende geschriebene Sätze stiess, auch nicht auf 500 Zeichen Martinshorn. Der Text ist durchaus verständlich. Das hatte ich nicht erwartet. Was mich ebenfalls überraschte, war, dass die Gedankenabfolge, obwohl der Schreibfluss nie unterbrochen wurde, willentlich beeinflusst werden konnte. Werden musste! Immer wieder bestand die Möglichkeit „abzuzweigen“ und ich war gezwungen, mich in einem Sekundenbruchteil entscheiden, welchen Gedankengang ich weiterverfolgen wollte! Das finde ich eine ungeheuer spannende Entdeckung: Wie viel an Lebens- und damit auch Erzählstoff nur schon in einem einzigen Morgen steckt.
    Nein, ich fürchte mich nicht vor dem Heilwerden. Ich sehe nicht ein, warum der Erzählstoff weniger werden sollte, nur weil mir plötzlich wohler ist in meiner Haut!
    Matthias Zschokke hat kürzlich in einem Interview gesagt:
    „Ich versuche im Grunde genommen immer das Gleiche, nähere mich immer mehr mir selbst an, bis ich am Schluss nur noch aus Papier bestehe, oder umgekehrt: bis man meine Bücher liest und meint, Leben erlebt zu haben. Denn das ist es, was mich interessiert: den Alltag so aufs Papier zu übertragen, dass er Literatur wird und also spannend, vor allem: erträglich. Und dass irgendwann alles erzählenswert ist und zu leuchten beginnt und nicht mehr erzählt zu werden braucht.“
    Wunderschön, nicht?
    Nicht mehr erzählt zu werden braucht, aber möglicherweise erst recht erzählt werden sollte?!
    „Freude, schöner Götterfunke,
    Tochter aus Elysium,
    Wir betreten feuertrunken,
    Himmlische, dein Heiligtum.“ ;-)
    In diesem Sinne wünsche ich frohe Ostern!
    Liebe Grüsse
    Regula

  3. Xeniane meint

    Liebe Milena Moser!

    Ich habe das Buch von Tim Parks auch kürzlich gelesen. Mit der Detailgetreue ging es mir ähnlich:) Leider habe ich es in der Mitte zuklappen müssen. Es ging einfach nicht.Vielleicht ja ein andermal.

  4. Karin meint

    Liebe Milena, Parks habe ich mir notiert. Das hört sich, na ja, vielleicht nicht lecker, aber interessant an.
    Ein Leben ohne Schreiben? Eines ist klar, mit meinen diagnostizierten und nicht diagnostizierten Macken wäre ich schon lange in der Psychiatrie gelandet, wenn ich nicht schreiben würde. So habe ich mich seit ich 8 Jahre alt bin im Gleichgewicht gehalten.
    zur Zeit reizt mich ein Experiment, auch wenn mir bei dem Gedanken der Schweiß ausbricht, einmal bewusst 1 Monat nicht zu schreiben. Keinen Blog, keine Artikel, keine Geschichte. Nee, ich glaube das wäre doch nichts. Aber spannend könnte es werden und hinterher könnte ich über all diese Erlebnisse schreiben. :-)
    Hab eine schöne Zeit.
    Alles Liebe Karin

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