Stimmen im Dunkeln

The voices are not the problem. It’s when you try to do something about them. Mark Vonnegut, „Just like someone without mental illness, only more so.“

Das ist nicht mein Leben. Ich höre den Satz, ich schreibe ihn auf. Das ist nicht mein Leben. Der Satz kommt aus dem Kopf meiner Figur. Er ist ihr Gedanke. So fängt es an. Mit einem Satz. Kein besonderer Satz, kein berühmter erster Satz der Weltliteratur. Er bleibt auch selten der erste Satz im fertigen Buch, eigentlich nie. Bei den Montagsmenschen war es Ich bin eine Fälschung. Ich führe ein Doppelleben. Steht jetzt irgendwo im vierten Kapitel. Aber er steht noch da. Dieser erste Satz nicht aus meinem Kopf, sondern aus dem Kopf einer Figur. Jetzt gibt es kein zurück mehr.

Deshalb sperre ich mich wie ein kleines Kind. Ich mache mir vor, ich müsse erst alle Auftragsarbeiten erledigt haben, bevor ich mich an einen neuen Roman wage. Fünf Kolumnen, zwei Kurzgeschichten, ein längerer Artikel: Ferien einer Schriftstellerin. Wenn ich nicht in den Ferien wäre, würde ich mir einreden, ich müsse den Kühlschrank ausräumen oder meine Bücher sortieren oder, warum nicht, das Internet nach praktischen Stiefelaufhängvorrichtungen durchsuchen. Fernsehserien sind auch gut. Klick klick klick. Next next next. Doch es hilft alles nichts, die Figur, die noch keinen Namen hat, drängt sich in alles hinein, jedes Buch, das ich lese, jeden Film, jeden Zeitungsartikel. Alles erinnert mich an sie, überall sehe ich sie, die taffe New Yorker Polizistin im Fernsehen trägt eine ähnliche Brille, die steigende Arbeitslosigkeit, genau, das betrifft sie.

Wenn die Stimme zu laut wird, muss ich sie aufschreiben. Also schreibe ich: Das ist nicht mein Leben. Und dann den nächsten Satz und noch einen und noch einen.

Mark Vonneguts Mutter sagte zu ihrem Sohn: Honey, why don’t you just go along with the voice? Ich schreibe sie halt auf. So fängt es an. Ich schreibe mich von innen an die Figur heran, aus ihrem Kopf heraus in ihr Leben. Die flüchtigen Tagebuchgnotizen, die ich sonst zwischen zwei Romanen mache, wo bin ich gerade, wie sieht es da aus, was denke ich darüber? werden zu den Notizen einer Figur. Ich nehme ihr Diktat auf. Wo ist sie, was sieht sie, was denkt sie darüber?  Ich weiss, wenn ich einmal damit anfange, ist der Kurs gelegt. Dann kann ich nicht mehr aufhören. Das Leben der anderen schiebt sich über meines. Wenn ich den Blick vom Schreibtisch hebe, sehe nicht die zarten Nebelfetzen in den buntbemalten Dachgiebeln von San Francisco hängen, sondern ich schaue in den Hof einer neuen Siedlung am Zürcher Stadtrand, ich sehe eine graue Sitzbank aus Beton, ich frage mich, in welchem Stockwerk ich bin… nicht zu hoch… drittes vielleicht….

Übrigens, von wegen normal, „bin ich normal?“: Neulich kam ich aus dem Burghölzli. Das ist die Psychiatrische Universitätsklinik in Zürich. Ich stieg in ein Taxi. „Sind sie Aerztin?“, fragte der Taxifahrer. „Nein.“ Einen Moment lang schwieg er. Ich konnte seine gerunzelte Stirn im Rückspiegel sehen, konnte sehen, was er dachte – Besucherin? Patientin? Was? Er fragte nicht weiter, sondern sagte freundlich: „Machen Sie sich nichts draus, Sie könnten jederzeit als Aerztin durchgehen!“

Schreibübung: Wo bin ich, was sehe ich, was denke ich darüber – aus wessen Sicht auch immer.

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Leser-Interaktionen

2 Kommentare

Kommentare

  1. Isabel meint

    Liebe Milena
    Mit Figuren bevölkern tut sich’s bei mir immer recht schnell – nur die unterschiedlichen Sichten mehr oder weniger konsequent beizubehalten, erweist sich als schwierig, und die Versuchung der Harmonisierung oder böser gesagt zur Manipulation ist (wie im richtigen Leben!) manchmal bestechend. Manche Charakterzüge würden wahrscheinlich unweigerlich zum Untergang, oder noch schlimmer – zur Stagnation führen. (mit Stagnation kann man wahrscheinlich kein interessantes Buch füllen!) Dabei ist es vielleicht am spannensten, die Figuren sich selbst zu überlassen…Das bedingt, dass die eigene Stimme ganz klein wird. ‚Schöpferin‘ zu sein, finde ich gar nicht so einfach!
    Herzlich Isabel

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