Tingel, tangel.

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Ich bin also wieder da. Ich drehe noch eine Runde auf dem alten Karussell. Das neue Buch ist da. Die Lesereise hat begonnen, die letzten Auftritte mit den Unvollendeten. Tingel, tangel, tingel, tangel. Ich mache es gern. Mein Handlungsstrang in diesem Theaterprogramm ist eine eigenartige, passende Fortsetzung zum Buch. Naja, logisch: Beides schöpft aus meinem Leben. Wobei, ich gebe zu, das Vorbereiten der Lesungen war diesmal schwieriger als sonst, Das Aussuchen der Textstellen. Nicht, weil dieses Buch so persönlich ist, damit habe ich keine Mühe, nie gehabt. Diejenigen unter Euch, die seine Entstehungsgeschichte mitverfolgt haben, wissen, dass mir beim Schreiben immer sehr bewusst war, was und wieviel ich von mir preisgebe. Ganz im Gegensatz zu einem Roman – da passiert das so unbewusst, dass ich manchmal im Nachhinein erschrecke. Wollte ich das wirklich erzählen?

Warum die anekdotische Wahrheit als wahrer gelesen wird als die essentielle, verstehe ich nicht wirklich, aber ich hinterfrage es auch nicht. Nein, was mir den Magen zusammenzieht ist die Erinnerung an diese Person, die ich war, als ich erlebte, was ich beschreibe. Ein bisschen, wie wenn man ein altes Foto anschaut aus einer Zeit in der man nicht besonders glücklich war: Dieses Lebensgefühl ist sofort wieder da. Oh Gott, denkt man sich, ich seh ja furchtbar aus! Das Unglück ist mir ins Gesicht geschrieben! Warum hat das niemand gesehen? Warum hat mich niemand auf der Strasse angehalten und gefragt: „Are you OK, Ma’am?“ (Auf englisch, weil man sowas in der Schweiz ja ohnehin nicht macht.)

Das erste, und auch das zweite Mal, als ich mein Belegexemplar öffnete, um die besten Stellen zum Vorlesen zu suchen, liess ich das Buch wieder fallen als hätte ich mich verbrannt. Unterdessen geht es besser, die ersten paar Lesungen haben mir gezeigt, dass gerade diese Stellen, die mir am unangenehmsten sind, eine Verbindung herstellen zu den Zuhörern, den Lesern. Als würde ich ein Seil auswerfen im Dunkeln, ins Leere – und wider Erwarten fasst jemand das andere Ende. Das Seil spannt sich, wir spüren beide: Wir sind nicht allein hier.

Und dabei wollte ich dieses Buch gar nicht schreiben. Beziehungsweise, schreiben wollte ich es schon, aber erst einmal nur für mich. Um Klarheit zu gewinnen, um zu verstehen, was auf dieser Reise passiert war, und warum. Ob das für andere interessant sein könnte – keine Ahnung. Ich verliess mich da auf meinen Verleger, auf meinen Agenten. – Dies nur als Ellbogenstupf an all die, die zuhause am Schreibtisch sitzen und denken: „Oh je, ich hab ja gar nichts zu sagen. Ist ja „nur“ mein Leben. Wen interessierts?“ Etc etc.

Willkommen im Club, antworte ich da.

Und dann fällt mir etwas ein, was meine frühere Lektorin einmal gesagt hat, die gestrenge Dr. Angela Praesent, Wer-immer hab sie selig: „Man muss grosszügig sein. Mit dem was man denkt, mit dem was man schreibt, mit seinen Ideen. Man darf nicht fett drauf hocken und sie eifersüchtig hüten, wie eine Spinne!“

Wobei Spinnen das gar nicht tun, aber das ist ein anderes Thema.

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Leser-Interaktionen

8 Kommentare

Kommentare

  1. Gise Kayser-Gantner meint

    … Deine Lesereise läuft gut, Du weißt die Menschen zu packen. Mindestens gestern Abend in Leipzig: sechs Männer, fünf mal so viele Frauen hatten Dein imaginäres Seil fest gepackt . Ach, die hängenden nackten männlichen Artisten, die vom eisernen Träger in der Mitte der Sparkassen-Kulturhalle ihre Glieder verrenkten, habe ich ganz vergessen in der Aufzählung. Und den General links von Dir im Bild am Rednerpult. Und die Männerbüstengruppe in Weiß und Gold, mit Blut manch einer besudelt, mit Abstand und einem gelassenen, zufriedenen Gesichtsausdruck der Typ, dem ein Fleischerbeil die hintere Schädelhälfte von Ohr zu Ohr spaltete. Rechts neben Dir eine Dame aus unseren Tagen auf Knien, die den blendenden Strahl der Erkenntnis, der unbefleckten Empfängnis mit den Händen abzuwehren sucht, dabei neugierig zwischen den gespreizten Fingern hervorlugt. Das war aber alles nichts gegen die Skulptur hinter Deinem Stuhl. Ein Rüstungsträger aus dem 30-jährigen Krieg, der im wilden Fall das Schwert nach vorne streckt (von Dir weg, Gottseidank!), aber bedrohlich den Morgenstern schwingt. Ein etwas surreales Ambiente, das musst Du zugeben – aber dann Deine Wörter, aus dem Hier und Jetzt, die den sechsten Mann im Raum neben mir am Ende seufzen ließen: „Wie schade, dass sie schon aufhört“, in bestem Sächsisch! Danke für diesen Abend, Milena!

    • Milena Moser meint

      Danke,leibe Gise und schön, dass du da warst! Und danke auch für die Beschreibung der Kunstwerke, die ich gar nicht richtig wahrgenommen hatte!

  2. Denise meint

    Ich freue mich schon richtig toll auf das Buch.
    Zumal es ja auch immer ein wenig unser aller Buch ist, die wir dir beim Schreiben über die Schulter geguckt haben. Diese Form von Biografie und dein Gedanke, wie unterschiedlich wir den verschiedenen Wahrheiten, anekdotischen und essentiellen, umgehen, berührt mich immer wieder sehr. Bei andern, bei dir, bei mir selbst (Stichwort: Lesen in alten Tagebüchern) …
    Mich faszinieren die Leben anderer Menschen, ganz besonders, wenn sie nicht allzu gradlinig waren.
    Wobei … normal und gradlinig sind die Menschen eh nur, solange wir sie nicht kennen … :-)
    Vorfreudige Grüsse
    Denise

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