Tu’s nicht, Frau Lot!

Seit sechs oder sieben Wochen schreibe ich mehr oder weniger regelmässig. Ich habe schätzungsweise 70 Seiten zusammen. Siebzig Seiten Chruut und Rüebli. Alles durcheinander. Siebzig Seiten so unkorrigiert wie der Abschnitt, den ich hier einmal veröffentlicht habe. Für jeden anderen unlesbar. Von diesen 70 Seiten ist wohl noch keine die erste. Keine der angefangenen Szenen ist wirklich ein Anfang. Ich habe lauter Vignetten, Szenen und Bilder, die noch nicht recht zusammenpassen. Verschiedene Figuren kommen und gehen, zeigen sich, ziehen sich zurück. Erika, mit der alles angefangen hat, hat mich schnell in düstere Abgründe gezogen, in die ich ihr nicht folgen mochte. Ihre Tochter hat sie zur Seite geschoben, Suleika, die erst sehr dick war und dann wieder nicht (die Fünf-Seiten-Diät!). Nevada, der Montagsmensch aus meinem letzten Buch, sass auf einer Bettkante und dachte an Selbstmord. Dann lernte sie im Wartezimmer ihres Neurologen einen jungen Mann kennen, der sie zum Lachen brachte. Doch dieser junge Mann ist so schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht ist. Ich suche ihn verzweifelt, er ist weg. Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Aus Erikas Abgründen wächst eine Nebengeschichte, eine Familiengeschichte, Generationen, Generationen zurück. Da ist eine Textilfabrik, ich sehe nur Stoffe, raue Wolldecken, wild gemusterte Seidenstoffe und weisse Tücher, die auf Möbeln liegen. Und geschlossene Läden. Weiss der Geier, was das soll! Dann steht Nevada plötzlich wieder als Yogalehrerin vor einer Gruppe junger Mädchen. Suleika ist unter ihnen (ich wünschte wirklich, sie würde bald einen anderen Namen aussuchen!)

Ich habe nichts vorzuweisen. Ich könnte nichts verkaufen. Und doch bin ich seltsam zuversichtlich. Ich habe das Gefühl, es werde schon alles irgendwie zusammenfinden. Die Figuren beschäftigen mich Tag und Nacht und ziehen mich immer wieder zurück an den Schreibtisch. Ich weiss, dass ich jetzt nicht mehr aufhören kann, selbst wenn ich es wollte.

Jetzt zurückschauen? Aufräumen? Einen roten Faden finden? Ordnung schaffen? Korrigieren, büschelen? Nein, warum? Wenn ich jetzt zurückschaue, erstarre ich. Jetzt muss ich weiter, weiter, weiterschreiben. Das andere kommt nachher. Alles hat seine Zeit.

Das scheint mir vollkommen natürlich und macht mir sehr wenig Mühe. Aber ich bin auch nicht eine, die aufräumt, bevor sie in die Ferien fährt, sondern wenn sie zurückkommt. Ich wundere mich in jedem Kurs von Neuem, wieviel Widerstand der (von mir aus gesehen einfache) Vorschlag, einmal vier Wochen lang nur „geradeaus“ zu schreiben, nicht zurückzuschauen, das korrigieren, überarbeiten, büschelen auf nachher zu verschieben, auslöst. Was ist so schlimm daran, ein Chaosdokument auf seinem Schreibtisch zu beherbergen?

Ich frage in allem Ernst. Erklärt es mir.

Natürlich, wenn ich heute auf dem Heimweg von einem Auto überfahren werde, ist meine grösste Sorge nicht, ob ich auch anständige Unterwäsche anhabe, sondern ob jemand dieses angefangene Manuskript findet und als Beweis dafür benutzt, dass ich nicht bei Sinnen sein kann, dass ich eingesperrt, entmündigt, versorgt gehöre. Aber da ich ja schon tot bin, ist das ja dann auch egal.

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Leser-Interaktionen

11 Kommentare

Kommentare

  1. Karin meint

    Ja die Sache mit dem Chaos zulassen. Das kann ich jetzt. Bei mir ist es immer ein Riesenchaos das sich nach und nach sortiert.
    Beim Kreativen Schreiben stelle ich immer fest, dass es den meisten Menschen schwer fällt einfach mal das Chaos zu akzeptieren und an dessen Selbstordnungskräfte zu glauben.
    Wo mit ich ein Problem habe, sind die strukturierten Schreiber, die mir immer von Plotlinien und Datenbanken erzählen, die ich nutzen soll.
    Alles Liebe Karin

  2. Barbara meint

    Ich mache eine Probefahrt auf deinem Vehikel, Milena.
    20. Januar: 7516 Zeichen – 21. Januar: 6’576 – 22. Januar: 5’120 – nie Null.
    Ich schaue Selma zu und versuche, nichts zu kontrollieren. Keine Ahnung, was sie in diesem Ferienhaus in Dänemark tut.
    Ich gehöre zu denen, die vor den Ferien aufräumen (-: mal sehen, ob ich eine Antwort zusammenschreiben kann zu deiner Frage.
    Gute Nacht und liebe Grüsse, Barbara

    • Barbara meint

      Ich hatte einen soooo spannungsvollen Tag mit zähen Gesprächen, morgen wieder ein anstrengender Tag, ich bin hundemüde, heute kein Schreiben, ohne schlechtes Gewissen … ein kurzer Blick in den Blog, ich schleppe den Laptop ins Bett – 4301 Zeichen – weniger als gestern, aber mehr als Null und Nix, Blog sei Dank und gute Nacht, Barbara

  3. Isabel meint

    Nee, Milena, so kommste mir nicht durch. Regelmässiges Chaos ist auch Ordnung, und man kann auch noch einen Kult daraus machen. Ist nur ne Definitionssache, wo das Chaos ist, und wo die Ordnung. Habe mich darin ordentlich ausgebildet, in dem ich das letzte Jahr dazu gebraucht habe, Ordnung zu machen, und glaube mir: ich hatte Mühe, meine Sachen zu finden! Auf meinem Schreibtisch steht im Moment: eine Tasse Kaffee, ein Haftzettelblock mit ordentlich aufgestelltem hinten-an-den-Bleistift-tu-Radiergummi, zwei Bleistifte, Kathrins Kugi aus dem Laden und daneben das Schreibtagebuch, die aufgeschlagene Agenda, meine Aufgabe für den Leistungsnachweis in der Weiterbildung, ein Schreibblock, noch ein Schreibblock mit Fragen an Fanny, Hauptfigur Geschichte 2, Weihnachtskarten, ordentlich auf einem Haufen, die wahrscheinlich noch beantwortet werden müssen, eine Übe-CD mit Dirigierübungen, eine leere Packung Salbeibonbons, auf der die Adresse des jungen Mannes steht, der mich ein Stück abgeschleppt hat (mit dem Auto, denk), nachdem ich mich mit kaputter Kupplung (vom Auto, denk) an den Rand gerettet hatte, und dem ich noch ein Glas unseres selbstgemachten Honigs schenken wollte, sowie der sinnige Spruch ‚Erfolgreich zu sein heisst tolerant zu sein‘, der einst in einem chinesischen Glücksding gesteckt hat, dann an meiner Magnettafel war, und vorhin runter gefallen sein muss, als ich das Auge im Sternbild Wassermann aufgehängt habe, das wirklich unglaublich schön ist…hat alles seine Ordnung, glaub mir! Und irgendwann schaffe ich es auch, die Dokumente in meinem Computer mit allen Einträgen in irgendwelchen Büchern zu vereinigen!

    • Milena Moser meint

      @ Isabel: danke für das Bild, und die Klammer (mit dem Auto, denk!) Ob das Nevadas junger Mann gewesen ist? Dann wüsste man wenigstens, wo der jetzt steckt!

  4. Regula Haus-Horlacher meint

    16. Januar: Rahel 14.15 – 15.00 / 20.13 – 21.00
    17. Januar: Rahel 14.00 – 15.00 / 20.12 – 21.00
    18. Januar: Riesenpaket mit Ersatzteilen für Dampfabzug von der Post holen, zum Glück ist es leicht. Protokoll Praktikum, damit ich nicht alles vergesse bis am nächsten Montag.
    19. Januar: Stress wegen einer Email, die ich übersehen habe. Muss morgen eine Viertelstunde früher ins Geschäft, damit ich während der Arbeitszeit zwei Telefonate erledigen kann.
    20. Januar: Alles in Ordnung. Personalessen.
    21. Januar: Krank.
    22. Januar: Schlafen. Rahel: 10.00 – 10.27. Dampfabzug putzen, Ersatzteile einsetzen. Rahel: 14.20 – 14.41
    Vom Säntis ist sie zurück. Hat Muskelkater wie noch nie und ein zerdätschtes Kinn. Aber abgestürzt ist sie nicht.

    Na also, geht doch?!
    = )

  5. Gise Kayser-Gantner meint

    Eine mögliche Antwort auf Deine Frage nach der Angst vor Büschelung&Co. könnte mangelnde Erfahrung im Umgang mit Chaos sein. Vielleicht sind viele von uns (ich gehöre meistens dazu) noch nicht bis zu Claudels Einsicht gekommen, dass Ordnung die Lust der Vernunft, aber Unordnung die Wonne der Fantasie ist. Mich beschäftigt gerade intensiv die Suche nach der Antwort auf die Frage: „Können Unterhosen Zeichen fressen?“ Sonntagsgrüße an Dich!

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