Was man darf.

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Ich rufe zu Gewaltanwendung auf. Ich sei schuld an der zunehmenden Verrohung der Jugend. Das wurde mir vor über zwanzig Jahren vorgeworfen, als meine zweite Sammlung von Mordgeschichten erschien, aus der Sicht der immer selben Täterin erzählt, die nichts erklärte und sich für nichts entschuldigte. Zur selben Zeit wurde im Schweizer Fernsehen aus Versehen ein sekundenlanger Ausschnitt aus einem Gewaltporno gezeigt und ein junges Mädchen wurde ermordet, weil es einem Burschen mit seiner Schwärmerei auf die Nerven gegangen war. Plötzlich war alles dasselbe in Grün. Das Video und ich und der Mord. Das Mädchen war dick und ungeschickt und unbeliebt und offenbar eine „typische Moser-Figur.“ In meiner Geschichte hätte sie das Messer gezogen. Im Leben war es umgekehrt.

„Frau Moser, finden Sie nicht, man sollte Konflikte anders lösen als mit einem Mord?“

Solche Fragen wurden mir im vollen Ernst gestellt. (Übrigens, wer „Die Unvollendeten“ gesehen hat, und meint, das abstrus-grausame Interview am Ende sei eine gelungene Satire, dem sei versichert, dass wir uns jede einzelne dieser Fragen einmal anhören mussten.) Damals wie heute war ich fassungslos, dass ich erklären musste: „Es ist eine Geschichte! Kein Pamphlet! Kein Selbsthilferatgeber!“ Dass es Menschen geben könnte, gebildete und belesene Journalisten, die ein Buch mit dem Titel „Mein erster bis elfter Mord“ allen Ernstes als Autobiographie lesen, hätte ich tatsächlich nicht erwartet. Aber so lernte ich eine der wichtigsten Lektionen über das Lesen und Gelesenwerden schon sehr früh: Man kann die möglichen Reaktionen der Leser weder kontrollieren, noch vorausahnen. Denn der Text löst die Leseerfahrung nur aus. Den Rest macht der Leser selber. Seine Realtität, seine Erfahrung, seine Haltung auch seine momentane Stimmung tragen ebenso viel zu der chemischen Reaktion bei, die Glück oder Irritation oder beides auslöst. Das wissen wir alle, die schon einmal ein Buch mit glühenden Worten weiterempfohlen oder ein Lieblingsbuch nach Jahren wiedergelesen haben. Jeder Leser ist ein Einzelner. Und Einzigartiger. Deshalb darf man sich als Schreibende nicht einbilden, diese Einzelnen manipulieren oder kontrollieren, schon gar nicht, es jedem Einzelnen Recht machen zu können. Es ist nicht möglich.

Letzte Woche habe ich, in einem Nebensatz mehr, auf das Ende meines letzten Romans Bezug genommen, in dem Nevada beschliesst, dass die Erinnerungen an den Missbrauch durch ihren Vater ihr Leben ebensowenig beherrschen sollen wie ihre Diagnose mit einer unheilbaren Krankheit. Sie beschliesst, mit all ihren Wunden und Narben zu leben, ohne sich über sie zu definieren. Sie weigert sich, „die Kranke“, „das Opfer“ zu sein. Sie ist immer noch Nevada.

Auf diesen Beitrag gab es unterschiedliche Reaktionen. Sie reichten von  befremdet mich sehr.. als sei es allein eine Willenssache über ein Trauma hinwegzukommen.. das stellt alle andern, die es nicht „schaffen“ so hin als wären sie schuld daran es nicht anders drehen zu können! Gefällt mir gar nicht!! bis zu Sehr sehr schöne Geschichte – und so wahr…. Ich habe chronische Schmerzen, seit ich drei Jahre alt bin, also mehr als 50 Jahre. Das deprimiert manchmal, es nimmt Mut und Lebensfreude, auch -Qualitär… aber es bestimmt zu keinem Zeitpunkt mein ganzes Leben.

Wer hat nun Recht? Nach welchem Kommentar soll ich mich richten?

(Ich) kenne leider einige wirklich Traumatisierte und deren lange Leiden.. und so lese ich alles ein wenig „aus ihren Augen“ mit .. und deswegen musste ich dies posten! Ebenfalls finde ich, dass Du -als so versierte Schriftstellerin- mit den verschiedenen Lesarten umgehen können „musst“ und meiner Meinung nach auch wollen solltest, dass Dein Blickpunkt verstanden wird..

Genau. Mit verschiedenen Lesarten umzugehen heisst aber nicht, zu versuchen, so zu schreiben, dass sich niemand missverstanden oder gar provoziert fühlt. Das ist gar nicht möglich. Meine Haltung, meine Sicht auf die Welt fliesst in jedes meiner Bücher ein. Eine andere Frage, die mir oft gestellt wird, von Schülern meist, ist: „Frau Moser, warum kommen in ihren Büchern keine normalen Menschen vor?“ Worauf ich dann antworte: „Das sind doch normale Menschen! Jedenfalls für mich.“ Es gibt Leser, die meine Welt wiedererkennen, und andere, denen sie fremd ist. Es gibt Leser, die gern ihnen fremde Welten betreten und andere, die sich lieber in der eigenen wiederfinden. Mit diesen verschiedenen Lesarten umzugehen heisst zu akzeptieren, dass man nicht für alle schreiben kann. Die Buchhändlerin in mir ist deshalb dankbar, dass es so viele Bücher gibt. Jedes Jahr erscheinen Hunderttausende von ihnen. Stellt euch mal vor, es gäbe jedes Jahr nur ein neues Buch, eines für alle!

The only way you can write the truth is to assume that what you set down will never be read. Not by any other person, and not even by yourself at some later date. Otherwise you begin excusing yourself. – Margaret Atwood.

Und wer heute nicht provoziert werden will, der lese bitte nicht weiter:

Eine Weltsicht, die ausschliesst, dass eine „wirklich Traumatisierte“ gleichzeitig auch eine „versierte Schriftstellerin“ sein könnte oder umgekehrt, erschüttert mich bis ins Mark. Nicht, weil ich hier im typisch weiblichen „ich hab aber mehr gelitten als du!“-Spielchen auftrumpfen will, ganz im Gegenteil. Sondern weil dieses Weltbild die „wirklich Traumatisierten“ auf ihr Trauma reduziert.

Um es mit Nevada zu sagen:

Und genau so entschieden weigerte sie sich, die Urteile der Schulpflegerin und der Sozialarbeiterin über ihre Mädchen hinzunehmen. Diese Urteile basierten auf der Annahme, dass die Herkunft eines Menschen, sei es auf der geographischen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen oder emotionalen Ebene ihn unveränderbar forme. Solche Urteile wurden lebenslänglich verhängt. Diese politisch durchaus korrekte Haltung schien Nevada von einer ungeheuren Grausamkeit. Nichts verletzte sie selber tiefer als die Annahme, ihr Versehrsein mache ihre ganze Person aus.

Nevada glaubte lieber, dass sie sich jeden Tag neu erfand. Dass sie sich mit jedem Atemzug neues Leben einhauchte. Dass in jedem Moment alles möglich war. Daran glaubte sie. Daran hielt sie sich fest. Manchmal aus reinem Trotz.

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5 Kommentare

Kommentare

  1. Isabel meint

    Liebe Milena
    Das ist es, was Bücher so wichtig macht – mit ihnen, durch ihre Figuren kann man wieder Mut bekommen. Mit dem Mut, es mit dem Leben aufzunehmen, ist das so eine Sache – Menschen sind sehr verschieden, und dort, wo der eine die Sache von einer anderen Seite betrachten kann, fehlt dem anderen die Vielsicht. Ich habe viel in letzter Zeit an menschlichem Leid gesehen, und unterschiedliche Arten, damit umzugehen. Die eine hat sich das Leben genommen, ist einfach hinüber geschwommen auf die andere Seite. Auch das braucht Mut. Die andere lebt weiter, kann trotz Schmerzen lachen, obwohl manchmal die Wellen über ihrem Kopf zusammenschlagen. Der dritte hatte innere Schmerzen, bevor ihn körperliche Schmerzen einholten, und hatte auch viel Schönes, das seinen Schmerz doch nicht aufwiegen kann. Die vierte hat ein so grosses Bündel zu tragen, dass ich mich frage, wie sie das überhaupt bewältgen kann…Für das Bewältigen gibt es keine Patentlösung, nur viele Geschichten. Und jeder Mensch, und jede Geschichte, kann ein Wegweiser sein. Ich glaube, das einzige, was wir machen können, um Menschen aus einer Ohnmacht zu holen, ist, unser Buch aufzuklappen und ihnen einen Spielplatz oder Rastplatz zu lassen…

  2. Regula Horlacher meint

    Ich glaube nicht, dass ich mich jeden Tag neu erfinden könnte. Ich weiss gar nicht, wie ich das geht. Aber das macht nichts. Jeder hat seine eigene Überlebensstrategie. Meine Stärke ist es, Strohhalme zu sehen und zu ergreifen.

    „Ein Herz und eine Seele.“, hat Matthias Zschokke vor ein paar Wochen in der Bund-Kolumne „15 Fragen an einen Schriftsteller“ auf die Frage „Was möchten Sie sein?“ geantwortet. Eine Antwort, die irritiert. „Ein Herz und eine Seele sein“ ist eine Redewendung mit einer ganz konkreten Bedeutung: Zwei Menschen verstehen sich so gut, als hätten sie dasselbe Herz und dieselbe Seele. Das ist eine wunderbare Sache. Für mich persönlich – das gebe ich unumwunden zu – die erstrebenswerteste Sache überhaupt. Nämlich, dass der eine Mensch, von dem ich weiss, dass er mir ähnlicher ist als irgendjemand sonst auf der Welt, sich mit mir verbinden, ja, möglicherweise sogar Tisch und Bett mit mir teilen will.
    Matthias Zschokke treibt die Sache aber noch ein Stück weiter: Er möchte selbst ein Herz und eine Seele sein. Das ist interessant, denn es wirft eine Frage auf, die ich mir, wenigstens in dieser Form, noch nie gestellt habe, obwohl die Redewendung die beiden Begriffe ja auch bei gängigem Gebrauch unterscheidet: Sind denn Herz und Seele nicht dasselbe? Und wenn ja: Was bedeutet „Herz“ und was „Seele“?
    Ganz spielerisch drängen sich mir altbekannte Wortketten auf: Geist – Seele -Körper; Kopf – Herz – Hand. Und weiter? Verstand …? Vernunft …? Materie …?
    Die Zeit vor etwa zehn Jahren fällt mir ein, als ich mich etwas zu intensiv mit Jung und seinen Archetypen befasste und auf eigene Faust versuchte, meine Aktivitäten und Beziehungen zu analysieren, worauf ich plötzlich nicht mehr wusste, was sich wirklich und was nur in meinem Kopf abspielte, so dass ich Angstzustände bekam und eine Psychologin aufsuchen musste, die mich nach anderthalb Sitzungen für gesund erklärte und mit dem im „schwarzen Sofa“ beschriebenen Himbeeren-Tipp sowie einem absoluten Märchenlese-Verbot nach Hause entliess. Hatte sie nicht von „vertauschten Ebenen“ gesprochen? An all das erinnere ich mich jetzt. Ebenen? Hm …
    Was also macht die Seele? Könnte es sein, dass sie eine Art Gefäss ist, etwas das alles in sich aufnimmt, womit man konfrontiert wird, einfach alles, handfeste Sinneseindrücke gleichermassen wie nur Spürbares? Ohne zu werten?
    Zum Beispiel: Ein Grossvater missbraucht seine Enkelin. Da er aber eigentlich lieber Knaben mag, vermittelt er ihr gleichzeitig, dass ein weiblicher Körper generell „grusig“ ist. Die Grossmutter unterstützt ihn, indem auch sie die Enkelin verachtet. Gleichzeitig richten die beiden aber kaum je ein „böses“ Wort an das Kind. Vor Aussenstehenden preisen sie es als das Beste und Klügste. Das alles speichert seine Seele.
    Und was macht das Herz? Wäre es möglich, dass es, ebenfalls noch ohne zu werten, die aufkommenden Gefühle feststellt? Im Fall dieser Enkelin wäre das sehr schwierig. Die zwiespältigen Botschaften, die sie beinahe ununterbrochen bekommt, lösen sich widersprechende Gefühle aus. Sie befindet sich in einem Dauerzustand von Verwirrung, Verstörtheit, Beunruhigung, der schliesslich in eine tiefe Mutlosigkeit führt. Die Unmöglichkeit, Vertrauen aufzubauen würde vermutlich in Todessehnsucht münden, WENN da nicht zum ganz grossen Glück auf der anderen Seite noch eine Grossmutter wäre, die das Mädchen nicht nur aufrichtig liebt, sondern sich ihm wegen gemeinsamer Neigungen und Interessen zusätzlich verbunden fühlt. Diese Liebe rettet dem Kind mit grösster Wahrscheinlichkeit das Leben.
    Und die Vernunft? Ist sie es, die entscheidet, wie mit den vorhandenen Gefühlen umgegangen werden soll?
    Habt ihr gewusst, dass die Gefühle an sich grundsätzlich wertneutral sind? Dass also theoretisch Liebe nicht besser ist als Hass, Wohlwollen als Missgunst, Freude als Trauer? Ich nicht! Ich habe das erst vor Kurzem von der Kinesiologin erfahren, die ich zur Zeit alle paar Wochen aufsuche, um den Wirrwarr in meinem Kopf aufzuräumen, der zwar inzwischen ein Phantomwirrwarr ist, aber nichtsdestotrotz immer noch äusserst unangenehme Symptome auslösen kann.
    Man darf nicht hassen, habe ich immer gedacht, wer hasst, ist ein schlechter Mensch. Das stimmt nicht, wer sich seinen Hass eingesteht, ist kein schlechter, nur ein ehrlicher Mensch!
    Ja – und weiter? Was hält einen davon ab, das gehasste Objekt zu quälen oder gar zu töten? „Hemmige“, meint Mani Matter:

    „Was underscheidet d Mönsche vom Schimpans?
    S isch nid di glatti Hut, de fehlend Schwanz,
    Und dass mer schlächter d Böim ufchöme, nei,
    Dass mir Hemmige hei!

    Aber über all das wollte ich eigentlich gar nicht schreiben! Ich habe Matthias Zschokke zitiert, weil er die Redewendung „Ein Herz und eine Seele“ wie einen Strohhalm gesehen, ergriffen und für seine Zwecke genutzt hat. So wie ich zum Beispiel Facebook nutze. Facebook ist weder gut noch schlecht, es ist einfach. Eigentlich sollte ich mir eine Homepage einrichten. Aber das kostet Zeit, die ich im Moment nicht habe, und Geld, das ich lieber für etwas anderes verwende. Warum also nicht Facebook? Da kann ich alles, was man über mich als Schriftstellerin wissen muss, posten: Veröffentlichungen, Biografie, Auszeichnungen, Veranstaltungen. Ausserdem kann ich mich mit Bildern, die mir gefallen und Texten, die mich beeindrucken, zusätzlich ein wenig profilieren. Was braucht es mehr? Meine 29 Freunde sind mir alle lieb und wert und ich grüsse sie von hier aus herzlich!

    Mich nicht selber neu erfinden kann ich nicht, aber dafür hin und wieder die Welt. Das ist auch eine Möglichkeit – eine von Vielen.
    Und, ah ja – fast hätte ich es vergessen: Es sind übrigens nicht immer nur Strohhalme, manchmal sind es auch Bäume :-)

    Ganz liebe Grüsse
    Regula

  3. Esther Wilson meint

    Mir gefällt einfach diese Einstellung von „Nevada“, wie sie sich jeden Tag neu erfindet. So eine Aussage gibt mir Kraft. Sich mit jedem Atemzug neues Leben einhauchen, toller Gedanke. Dass in jedem Moment alles möchlich ist, daran glaube ich auch. Ich stelle meine Möbel um, versuche herauszufinden, wie ich mich am besten einrichte, zuhause. Zuhause sein, bei mir, in die Tiefe hinabsteigen meines Inneren, mich meinen Aengsten stellen, darüber reden. Schwächen eingestehen, das geht ja noch. Aber Stärken! Stärken eingestehen? Da wird es schwieriger. Das darf man doch nicht. Mich loben darf ich. Das und das und das habe ich richtig gut gemacht. En schöne Sunntig no!

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