Schiesst nicht auf den Pianisten!

Das Beispiel ist so gut wie irgendeines: Erika-Fluss-Jesus. Die Szene, die mir in den Ferien eingefallen ist. Ich werde sie euch immer wieder mal vorführen, in allen Fassungen, angefangen bei der ersten Idee. Bis hin zur Szene im Buch. Wenn sie denn drin bleibt. Eingefallen ist sie mir am letzten Abend in der Hotelbar. Das ist kein Zufall. Denn sie hat mit einem Hotelpianisten zu tun. Vor ein paar Jahren war ich zu einer Hotellesung in Arosa eingeladen. Es war Frühsommer. Die Alpenrosen blühten. Meine Freundin Steffi, die dort für die Gästebetreuung zuständig war, hatte sich mit dem Barpianisten befreundet. Dieser, ein kleiner, drahtiger Mann um die sechzig, beschäftigte sich mit Naturheilkunde. Wenn er nicht in eleganten Hotelhallen aufspielte, lebte er bescheiden in einer Berghütte in…. weiss nicht mehr wo. Er trocknete und destillierte die auf seinen Tourneen gesammelten und rund um seine Hütte wachsenden Pflanzen und behandelte jeden, der bei ihm vor der Türe stand. Und zwar gratis. Auch in Arosa stand er früh auf, um die Pflanzen zu besuchen. Und Steffi kannte ihn gut genug, um ihn bitten zu können, uns einmal mitzunehmen.

Es war morgens früh um sechs. Wir trugen die hier übliche high-tech-Naturkleidung in bunten Schichten und spezielle Schuhe. Er, den ich nur im schwarzen Anzug kannte, stand mit nacktem Oberkörper vor uns. Er trug eine ausgefranste, abgeschnittene Hose, die mit einem Strick geschnürt war. An dem Strick hingen zahllose zerknitterte Plasticksäckchen, ein Messer. An den Füssen trug er schwere Lederschuhe, wie wir sie als Kinder zum Skifahren getragen hatten. Wortlos zog er los, wir folgten ihm. Er verliess bald den Weg, bückte sich manchmal nach einer Pflanze, rieb ein Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger, roch daran. Selten schnitt er einen Stengel ab, steckte ihn in eine seiner kleinen Tüten. Wir redeten wenig, hatten keine gemeinsame Sprache. Die Sonne ging auf. Die Alpenrosen entrollten sich wie ein rosa Teppich die grünen Abhänge hinab. Dazwischen lag Schnee. Alter, harter, schmutziger Schnee. Wir kamen an einen Fluss. Ok, an einen Bach. Einen Bergbach. Der geschmolzene Schnee hatte ihn anschwellen lassen. Unser Führer ging durch das Wasser, als sei es gar nicht da, ohne seinen Schritt zu verändern. Steffi, die sportliche, berggängige suchte nach vorstehenden Steinen und sprang sicher von einem zum anderen ans Ufer. ich blieb stehen. Zögerte. Je länger ich in das Wasser schaute, desto mehr wurde es. Unüberquerbar. Ich wollte schon hinüberwinken, dass ich umkehren würde, da sah ich den Pianisten zurückkommen. Er blieb vor mir stehen, drehte sich um, die Lederstiefel im kalten Wasser, mit Wasser gefüllt. Er krümmte seinen mageren Oberkörper, streckte seine Arme nach hinten. Ich verstand nicht. Ich schaute zu Steffi hinüber, die mit den Achseln zuckte. Der Mann streckte seine Arme noch weiter nach hinten, schnippte aufmunternd mit den Fingern – ich sollte auf seinen Rücken klettern? Ich? Die ich grösser und schwerer und jünger war als er? Da hatte er mich schon gepackt und zu sich gezogen. Seine Knie sanken noch etwas tiefer, und dann kauerte ich auf seinem knochigen Rücken, klammerte mich an seine Schultern. Seine Hände hielten meine Beine fest und so überquerten wir den reissenden Fluss, der in Wirklichkeit nur ein Bergbach war. Auf diesen wenigen Schritten überschwemmte mich erst die Scham, dann etwas anderes, das ich nicht benennen konnte, und als er mich auf der Wiese absetzte, weinte ich. Der Mann stapfte ungerührt weiter.

„Wie der heilige Christopherus mit dem Jesuskind“, murmelte Steffi, die auch Tränen in den Augen hatte.

Was da passiert ist, ich weiss es nicht. Ich weiss es erst, wenn es Erika passiert. Fortsetzung folgt.

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9 Kommentare

Kommentare

  1. Isabel meint

    Mache mich zum Werkzug deines Friedens…
    Das Überschreiten, das Transzendieren von Grenzen, ist ein weites, eben grenzenloses Gefühl, dass uns eine Ahnung davon gibt, wie gross Liebe eigentlich ist. Ich denke, dass wir solche Erfahrungen in Bildern, Symbolen und Gleichnissen weiter geben, und dass sie von anderen aufgeschrieben und bewahrt werden, damit wir uns untereinander beim Transzendieren helfen können – ein verinnerlichtes Bild macht es uns leichter, in entsprechenden Situationen auf andere zuzugehen und da zu sein, oder es macht es uns vielleicht auch leichter, einen anderen Menschen anzunehmen, der bei uns steht, um uns beim Überschreiten zu helfen.

    Leider sind solche Bilder, Symbole und Gleichnisse belastet, weil sie aufgrund ihrer Ausdruckskraft gut geeignet sind, um andere zu manipulieren. – ein Grund dafür, warum Institutionen, wie Kirchen, heute skeptisch, ja kritisch betrachtet werden. Dabei ist es ja auch ein Teil vos uns, der offene Situationen, die uns selbst die Wahl lassen (den Rubikon überschreiten oder nicht), als unangenehm empfindet und nach einer Führung sucht. Wir brauchen den liebevollen Nudge…aber eben keine Manipulation.

    Sicher bist du, Milena, schon aufgrund deines besonderen Talentes auch oft diejenige gewesen, die anderen diesen kleinen Stups, mit dem die Elefantenmutter ihren Jungen auf die Beine hilft, gegeben hat und dieses Gefühl ausgelöst hat, welches du als unbeschreiblich empfindest, vielleicht, weil es zu gross ist und zu pathetisch wirkt, wenn man es zwischen Buchstaben einklemmt. Beide Situationen empfinde ich als wegweisend für unser Leben – Werkzeug zu sein und anderen die Hand oder den Rücken zu bieten, aber auch Hand und Rücken annehmen zu können. Beides lässt uns erahnen, dass wir zu einer Sternenstrasse, zu einem Sternenbild gehören, und nicht als unabhängige Sterne haltlos im Universum herum treiben…

    • Milena Moser meint

      @ Isabel: Zu gross, um zwischen Buchstaben eingeklemmt zu werden… Danke dafür!! Elefantenmutter wäre ich gerne, ich denke aber meist, ich bin nur ein etwas grösseres Baby, das durch sein „öffentliches Straucheln“ den anderen zeigt, dass das OK ist… oder… weiss auch nicht… Ist Erika mein Elefantenjunges???

    • Isabel meint

      @Milena: Och, unterschätze mal deine Wirkung auf andere nicht…auf deinem Elefantenrücken (gross, bequem und angenehm schaukelnd) tummeln sich Babys ganz unterschiedlicher Art…und ein Straucheln ist doch nur wie ein Schauen nach hier und dort, nach oben und unten, und ein Ausprobieren der eigenen Möglichkeiten! Und der Rüssel – ganz phänomenal! Ein unschlagbares Instrument zum Aufspüren, für zärtlichem Zugriff, für Hilfestellung zum Einverleiben und damit für sorgfältiges und langsames Verdauen!

  2. Sofasophia meint

    Hallo Milena
    Erst seit kurzem habe ich, selbst Bloggerin, dein Blog hier entdeckt. Nachdem ich alle deine Bücher gelesen habe (und zwar schon, als dich noch fast niemand kannnte :-) – ich war halt als Buchhändlerin an der Quelle), finde ich es nun wunderbar erfrischend, dir hier beim Schreiben deines neuen Buches wörtlich über die Schultern zu schauen.
    Das fägt total. Merci vielmol!
    Zum Text hier: Ich hatte früher, als ungefähr 22jährige, ein total ähnliches Erlebnis. Zwar nicht Huckepack, aber … hm, einfach sehr ähnlich. Mit der ganzen Scham hinterher. Und allem anderen unbenennbaren im Bauch. Jedes Mal, wenn ich seither Bäche überqueren soll/will, fällt mir diese meine Geschichte wieder ein und ich sage mir: Hey, du kannst das. Warum auch immer ist mir das seither einbilde (obwohl ich es damals ja nur mit Hilfe geschafft hatte): es funktioniert. Sogar im Alltag. Du hast den Bach geschafft, dann schaffst du auch das, sage ich mir. Und wenn du nasse Füsse bekommst? So what?
    Ich bin gespannt, wie du diese, deine Sequenz in deinem Buch erscheinen lässt. Auch das ist ein Prozess.
    Danke für diese Transparenz hier in deinem Blog
    liebe Grüsse aus Windisch, Sofasophia

  3. Eva meint

    Liebe Milena
    Wir sind ein Leseclub und haben uns entschieden in der nächsten Zeit vor allem Bücher von Schweizer Autoren zu lesen. Dein Buch wurde ausgewählt. Leider ist unser Budget eher klein und aus diesem Grund wollten wir dich fragen ob du uns 1 oder 2 Bücher von deinem neuesten Werk „Montagsmenschen“ mit deiner Signatur schenken könntest? Wir würden uns sehr freuen! Vielen herzlichen Dank schon mal im Voraus für deine Bemühungen. Viele Grüsse aus Bern. Eva

    • Milena Moser meint

      @ Eva: Ich freue mich natürlich sehr, dass ihr mein Buch lesen wollt. Leider habe ich die zehn Freiexemplare, die mir zur Verfügung standen, bereits an Freunde und Familie verschenkt. Vielleicht könnt ihr euch ein Buch teilen? Gegenseitig vorlesen? Oder noch besser – aus der Bibliothek ausleihen?
      viel Spass! Milena

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