Nanoreinfall?

I’m a loser baby why don’t you just kill me …

November ist nicht mehr. Ein Winner-T-Shirt gibt es dieses Jahr nicht. Etwas mehr als die Hälfte der abgemachten 50’000 Wörter hab ich dazugeschrieben. Doch – die erste Version ist fertig.

Fertig? Was heisst fertig? Das heisst, dass ich jetzt anfange, zu überarbeiten. Knapp 280 Seiten liegen ausgedruckt neben mir auf dem Schreibtisch. Den wichtigsten Schritt, das erst mal Weglegen, das Liegenlassen muss ich aus Zeitgründen überspringen. Ich denke aber, ich kann diesen Schritt zwischen die dritte und die vierte Fassung schieben, wenn das Manuskript bei meinem Verleger liegt. Jetzt aber nehme ich mir Seite für Seite vor. Ich habe ein neues Dokument geöffnet und diktiere mir jeden Satz neu in die Tastatur. Vom Mund in die Hände finde ich die Sprache wieder, die im ersten Entwurf manchmal holprig und unfertig ist, manchmal aber auch perfekt. Immer wieder gefällt mir ein einzelner Satz, weil er mir mühelos über die Lippen kommt. Jedes Wort am richtigen Platz. Andere sortieren sich beim Wiederkäuen, wieder andere schaffen es nicht mehr über meine Lippen. Im rasenden Galopp des ersten Entwurfes habe ich vieles nur angetönt. Szenen nicht ganz ausgeschrieben, Sätze nicht beendet. Das alles fügt sich jetzt erstaunlich nmühelos zusammen. Obwohl, und das ist auch für mich interessant, obwohl ich diese 280 Seiten, die ich im Verlauf der letzten (ziemlich genau) zwölf Monate angehäuft habe, bis heute nicht durchgelesen habe. Ich habe keine Ahnung, was ich wirklich geschrieben habe – aber ich weiss plötzlich ganz genau, was ich geschrieben haben will.

Gerade arbeite ich an der Szene, in der Erika mit ein paar Freundinnen einen Vortrag des Dalai Lama besucht. Unterdessen ist aus dem Vortrag eine Umarmung von Amma geworden, ganz einfach, weil ich das einmal miterlebt habe, und deshalb leichter beschreiben kann. So fülle ich die Szene aus, werfe neue Sätze zwischen die, die ich mir diktiere. In der ersten Fassung flüchtete  Erika irgendwann in die Damentoilette, wo sie einen Schluck Wodka aus ihrem Handtaschenflachmann nahm. Jetzt sehe ich ganz deutlich, dass die Schlange vor der Toilette zu lang ist, dass sie direkt zu den Verkaufsständen geht, wo ihr eine dicke indische Verkäuferin den unheilvollen Satz „you live in the wrong house“ an den Kopf wirft. Genau so klar ist mir die Erinnerung, die dieser Satz in Erika auslöst. Und so füge ich hier eine Rückblende ein, von der ich weiss, dass ich sie schon geschrieben habe, aber viel später, vielleicht hundert Seiten später. Jetzt könnte ich natürlich vorblättern und sie suchen – aber ich tue es nicht. Ich schreibe diese Erinnerung so, wie sie mir jetzt, aus der Szene heraus, erscheint. Wenn mir diese selbe Erinnerung in hundert Seiten wieder begegnet, werde ich sie mit dem heute geschriebenen vergleichen und wenn nötig anpassen. Und wo ich so Seite für Seite abtrage, über Sätze stolpere, die beim besten Willen keinen Sinn mehr machen, und mich über andere freue, jetzt erkenne ich vor allem eines: Ich weiss viel mehr, als ich zu wissen glaubte. Es ist alles da. Ich weiss genau, was wo hingehört – egal, ob ich es schon geschrieben habe oder nicht.

Bei früheren Büchern habe ich in dieser Phase verschiedenfarbene Kärtchen angelegt, um mir einen Überblick über das bereits Geschriebene zu verschaffen, um die einzelnen Handlungsstränge zu sortieren. Diesmal ist es nicht nötig. Mir ist alles klar. Was sehr interessant ist, denn während des Schreibens war mir gar nichts klar.

Ich weiss, das klingt verworren. Egal. Eine kleine tröstliche Anekdote am Rande: Am Freitag war der Weihnachtsapero bei meinem Verlag. Ich war mir erst nicht sicher, ob ich hingehen und Zuversicht markieren oder zuhause bleiben und Arbeitsmoral beweisen sollte. Schliesslich ging ich hin. Und da traf ich Beatrice und Peter von Matt. Ihn kenne ich kaum, mit ihr – und Rosmarie Buri – war ich vor zwanzig Jahren auf einer legendären Lesereise durch verschiedene ägyptische Universitäten. Seither begegnen wir uns rein zufällig alle sieben Jahre mal. Und jedes Mal fragt nachher ein Kollege: „Wieso kennst du Beatrice von Matt? Warum redet sie mit dir?“ Das weiss ich allerdings auch nicht. Ich weiss nur, dass Beatrice von Matt mich jedes Mal, wenn ich sie treffe, mit dem Schweizer Literaturbetrieb versöhnt. Hier ist eine Frau, die ihrer Arbeit mit brennender Leidenschaft und kindlicher Begeisterung nachgeht und sich kein Mü um Äusserlichkeiten schert. Wer ist wer und wie wichtig interessiert sie nicht. Sie interessiert nur ihre Arbeit. Sie erzählte mir, woran sie gerade arbeitet und aus jedem Satz sprach die Sehnsucht nach ihrem Arbeitszimmer. Sie konnte es nicht erwarten, diese Veranstaltung zu verlassen und sich wieder an den Schreibtisch zu setzen. Ich konnte nicht anders, als mich anstecken zu lassen. Auf dem Heimweg im Zug klappte ich meinen treuen Freund, den Laptop auf und schrieb die letzte Szene des ersten Entwurfes. Ums Haar hätte ich den Bahnhof Aarau verpasst und wäre nach Basel weitergefahren, denn das Ende, das ich sah, war überhaupt nicht das Ende, das ich mir gewünscht hatte.

Wirklich? Nein! Das darf doch nicht…. aber dann klingelte das Telefon und…

OK.

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5 Kommentare

Kommentare

  1. Corinne meint

    Wie ich dich beneide, dass du schon eine erste Fassung auf dem Tisch liegen hast! Ich habe mal ausgerechnet: 95 Szenen mal zehn Stunden pro Szene geteilt durch zehn Stunden pro Woche, (wobei das schon eher Wunschdenken ist) … da bin ich immer noch an der ersten Fassung, wenn du schon am nächsten Buch bist. Aber jetzt ist Dezember und das Schreiben steht schon wieder viel weiter oben auf der Liste! Trotz Geschenken einkaufen, Weihnachtsbaum schmücken und Schnee schaufeln.
    Überhaupt. Schnee schaufeln! Was für eine super tolle Beschäftigung!!

  2. Regula Horlacher meint

    Gestern Morgen habe ich einem Flugzeugabsturz zugeschaut. Jahrelang habe ich mich davor gefürchtet, davon geträumt – jetzt trat es ein, während ich auf den Zug nach Bern wartete. Es sah genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte: Plötzlich erschien eine grelle Leuchtkugel am Himmel, die Richtung Boden fiel. Nicht langsam, aber auch nicht schnell. Ihr folgte eine feine Rauchspur. Erschrocken starrte ich auf den sinkenden Feuerball und registrierte erstaunt, dass niemand sonst das Ereignis zu bemerken schien. Ich überlegte mir, wo das Flugzeug am Boden aufprallen würde, Bilder von Horrorszenarien drängten sich mir auf. Brennende Häuser, schreiende Menschen. Sehen konnte ich nichts, die hohen Gebäude des neuen Campus verdeckten die Sicht und anders als in meinen Träumen, wo ich jeweils flüchten musste, weil der Absturz in meiner unmittelbaren Nähe erfolgte, war ich diesmal nicht in Gefahr. Helfen konnte ich auch nichts. Darum stieg ich, wie ich es vorgehabt hatte, in den Zug als er einfuhr. Ich richtete mich ein, hängte meine Jacke auf, versorgte die Handschuhe im Rucksack.
    Da fiel mir ein: Würde ein brennendes Flugzeug nicht dicken schwarzen Rauch entwickeln? Wie die explodierten Schiffe auf dem Vierwaldstättersee im vergangenen Sommer?

    Fehlalarm also –
    Ein Glück. Selbstverständlich.

    eine finte
    ein spiel mit meiner angst

    So etwas darf man nicht denken.

    Mir geht es gut.

  3. Frigo meint

    Ich habe gerade wieder Montagsmenschen gelesen, diesmal langsamer, weil ich die Geschichte ja kenne, und mich immer wieder über gelungene, witzige und zugleich tiefgründige Sätze gefreut. Natürlich sind Geschichte und Inhalt wichtig, aber die Sprache macht ein Buch erst zu einem besonderen Erlebnis.
    Ich freue mich schon auf das nächste Buch. Bis dahin lese ich Toni Morrison und Roald Dahl (dessen Kinderbücher kleine Meisterwerke sind).

  4. Sofasophia meint

    Liebe Milena

    Wie freue ich mich, dass es so gut läuft – auch weil ich mich schon jetzt auf das fertige Buch freue. Was du über den Abschreibprozess schreibst, fasziniert mich. Das mit dem Sich-selbst-vorlesen habe ich bis jetzt noch nie konsequent gemacht, muss ich aber unbedingt auch ausprobieren. Bis jetzt habe ich immer gemeint, dass der Kopf direkt in die Hände diktiert (bei mir), doch vielleicht ist es genau diese Erfahrung, der Einbezug der Stimme, die dem Text dann wirkliches Leben einhaucht. Danke, dass du uns so hautnah an diesem Schaffensvorgang teilnehmen lässt. Das macht einmal mehr Mut.

    Liebe Grüsse, Sofasophia

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