Worüber wir reden, wenn wir über das Schreiben reden.

Bin ich also eine Weile in der Schweiz, wo der Sommer…. lassen wir das. Ich wohne bei einer Freundin, die Schriftstellerin ist. Wir kannten uns schon ein paar Jahre, bevor ich erfuhr, dass sie an einem Roman arbeitete, der später den Rauriser Literaturpreis gewinnen würde. (Mein Lieblingssatz aus der Laudatio: „Aber keine Angst, es ist keine schwere Lektüre!“) Wir hatten also eine vom Schreiben unberührte Verbindung, bevor wir uns ausserdem als Berufskolleginnen erkannten. Oder Handwerkskolleginnen. Bis heute ist sie die einzige unter diesen, die ich als echten Freund bezeichne. Die einzige, mit der ich wirklich über das reden kann, was wir tun, was wir sind. Wenn wir über das Schreiben reden, reden wir über das Schreiben. Nicht über das Geschrieben haben, nicht über das Verkaufen des Geschriebenen. Nicht über die Aufnahme, die das Geschriebene erfährt oder nicht. Nein. Wir arbeiten, und dann treffen wir uns am Nachmittag in der Küche vor der Kaffeemaschine. Wir sehen aus wie zwei Wahnsinnige, die zu früh aus einem Traum geweckt wurden. Sie erzählt von einer nächtlichen Flucht durch den Wald, von Wildschweinen und Wölfe. Einer Frau im Rollstuhl, einer Freundschaft. Ich versuche, meiner autobiographischen Erzählung ähnlich hinreissende Momente abzugewinnen. Das ist nicht so einfach. Ich habe mich (ungern zwar, aber nur vorübergehend) von Luigi abgewandt. Mein Verleger wartet auf die Fortsetzung vom „Glück“. Und so schreibe ich gerade über die Zeit vor einem Jahr, als ich in genau dieser Küche sass, zwischen meinem Abschiedsfest, dem Räumen und Abgeben meiner geliebten Aarauer Altstadtwohnung und meinem One-Way-Flug in ein neues Leben. Es ist eine andere Art zu schreiben: Das Gerüst steht. Ich weiss, was passiert ist. Dieses atemlose Gefühl, das mich erfasst wenn ich während des Schreibens am Roman von der Schreibtischkante ins Leere trete, wenn sich die Geschichte vor meinen Augen aufrollt, während ich sie schreibe – dieses Gefühl, nach dem ich süchtig bin, stellt sich beim autobiographischen Schreiben nicht ein. IEs ist ruhiger, kontrollierter, aber nicht ohne Reiz. Wie ein Suchscheinwerfer kreise ich über dem weiten, dunklen Meer meiner Erinnerungen, verweile hier und dort etwas länger, leuchte etwas tiefer hinab. So wird die immer selbe Geschichte zu einer immer wieder anderen. Was war wichtig? Was ist es noch? Der Scheinwerfer verharrt heute an ganz anderen Stellen als noch vor einem Jahr. In meinen Tagebuchnotizen finde ich Momente, die ich bereits vergessen habe. Damals waren sie es. Gehören sie ins Buch? In diesen Schattenspielen, diesen Verwandlungen finde ich meinen Kick. Eine wahre Geschichte ist eine wahre Geschichte ist eine wahre…

Und so sitzen wir und trinken Kaffee und reden über Ereignisse und Menschen, die es gibt oder gegeben hat oder auch nicht, auf dem Papier, in der Erinnerung, in diesen Nebenwelten zu denen wir uns den Zugang erschreiben. Und ich denke: Wenn uns jetzt jemand hören könnte. Jemand, der nicht wüsste, dass wir Schriftstellerinnen sind. Der würde denken: Holy Guacamole, haben die aber ein reiches Leben! Das platzt ja aus allen Nähten!

Ja. So ist es. Und dazu stehen wir nicht mal vom Schreibtisch auf.

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7 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    Worüber reden wir, wenn wir über das Schreiben reden – worüber schreiben wir, wenn wir schreiben?
    „Die Wörter müssen stimmen, sie müssen das decken, was wirklich ist“, schreibt Laure Wyss in ihrer 1989 erschienenen Erzählung „Missverstandenes“, in der es um ein Kind geht, dessen Vater in der Öffentlichkeit nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden will, jedenfalls nicht als Vater, denn er ist nicht mit der Mutter des Kindes verheiratet, sondern mit einer anderen Frau.
    „Man könnte ihm sagen, ich sei sein Pate“, schlägt er vor, doch damit ist die Mutter des Kindes nicht einverstanden. „Soll er dich in der Stube drin als Vater begrüssen und dich auf dem Schulweg Onkel rufen? … Hat das Kind nicht ein Recht auf zuverlässige Wörter?“, fragt sie zornig.

    Die Zeiten haben sich geändert. Mittlerweile ist es üblich geworden, dass Kinder ihre Eltern mit dem Vornamen anreden. Das Problem „Wie darf ein Kind seinen Vater in der Öffentlichkeit nennen, wenn der in ebendieser Öffentlichkeit auf keinen Fall als solcher mit ihm in Verbindung gebracht werden will?“, ist kein Thema mehr.

    Ein Kind begrüsst auf der Strasse einen Mann. „Hallo Simon!“, sagt es. (Oder Marc. Oder Paul. Es könnte jeder Name sein.)
    Simon ist Simon. Irgendein Simon. Vielleicht ein Freund der aus dem Kind und seiner alleinerziehenden Mutter bestehenden kleinen Familie. Solche Familien gibt es heutzutage viele, auch das hat sich eingebürgert. Vielleicht ist er ein Arbeitskollege der Mutter des Kindes. Vielleicht sein Trainer aus dem Sportclub. All das ist denkbar. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass dieser Simon der Vater des Kindes ist. Sein Vater, der sich nicht zu ihm bekennen will, weil er fürchtet, damit sein anderes „richtiges“ Familienleben mit seinen anderen „richtigen“ Kindern zu gefährden und vielleicht sogar seine Karriere. Das ist nicht aus der Luft gegriffen. Die am unwahrscheinlichsten erscheinenden, privatesten Gründe können eine Karriere gefährden, das ist auch heute noch so.

    Was sind zuverlässige Wörter?
    Simon ist Simon. Marc ist Marc, und Paul ist Paul.
    Ein Tisch ist ein Tisch, ein Bett ist ein Bett, und wenn irgendwo geschrieben steht oder gesagt wird: „Ein Mann wäscht ein rotes Auto“, heisst das, ein Mensch männlichen Geschlechts wischt mit einem nassen Lappen über die rotlackierte Karosserie eines Autos. Oder er spritzt das rote Auto mit einem Schlauch ab. Oder er fährt mit ihm durch eine Autowaschstrasse.

    „Hat nicht das Kind ein Recht auf zuverlässige Wörter?“, fragt die Mutter des Kindes in Laure Wyss‘ Erzählung, „Und bald will es auch Sätze hören, auf die es sich verlassen kann.“

    Wann sind Wörter zuverlässig? Sätze verlässlich? Was macht Geschichten wahr?
    Wird eine Geschichte automatisch zu einer wahren Geschichte, wenn derjenige, der sie erzählt, selber glaubt, was er erzählt? Funktioniert das so?

    Kürzlich sah ich einen Film, der mich verwirrte. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Bösewicht. Konnte nicht stimmen, fand ich. Trotz seiner schändlichen Machenschaften wirkte er auf mich nicht so niederträchtig, wie er das meiner Ansicht nach sollte. Der Schauspieler ist nicht für diese Rolle geeignet, er spielt nicht überzeugend und der Regisseur hat das übersehen, mutmasste ich, aber sicher war ich mir nicht. Immerhin verstehe ich weder von Schauspielerei noch von Regiearbeit etwas. Trotzdem liess mir die Sache keine Ruhe, und schliesslich schaute ich mir den Film ein zweites Mal an. Tatsächlich konnte ich jetzt erkennen, was mich beim ersten Mal so durcheinander gebracht hatte: Die Arglosigkeit! Dieser Mann war arglos! Aber seine Arglosigkeit war von einer meinem eigenen Wesen so fremden, gleichsam entgegengesetzten Art, dass sie mein Vorstellungsvermögen schlicht und einfach überstiegen hatte. Ohne im Geringsten überheblich auf mich zu wirken – jedenfalls nicht auf den ersten Blick – war der Mann auf eine derart verquere Weise von seiner eigenen Rechtschaffenheit überzeugt, dass ihm das Verwerfliche an seinen Taten überhaupt nicht ins Bewusstsein drang.
    Eine junge Bankerin hatte einen Prozess wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz verloren und war deshalb in ein kleines Tochter-Unternehmen des Bankhaus, bei dem sie angestellt war, versetzt oder vielmehr abgeschoben worden. Auf Rache aus, nahm sie Daten mit, die, wie sie selbst zuvor entdeckt hatte, Steuerhinterziehung im grossen Stil nachwiesen. Mit Hilfe dieser Daten wollte sie sich nun auf eigene Faust Ausgleich für das Schmerzensgeld verschaffen, zu dem ihr der Prozess nicht verholfen hatte. Das kleine Tochter-Unternehmen befand sich auf dem absteigenden Ast, sein Ende war absehbar, und auch wenn diese Tatsache nach Möglichkeit vertuscht wurde, konnte sie den Mitarbeitern doch nicht verheimlicht werden. So fand die Bankerin in einem gleichermassen frustrierten Kollegen – dem oben erwähnten Mann – rasch einen bereitwilligen Mitstreiter. Das glaubte sie zumindest. Er hingegen glaubte an einen Plan. An seinen Plan. Und an diesen Plan glaubte er so sehr, dass er an dessen Aufgehen keine Sekunde zweifelte. So sehr, dass er sich gar nicht wirklich bewusst war, überhaupt nach einem Plan zu handeln. Er glaubte, Schritt für Schritt vorzugehen und in jedem Moment verantwortungsbewusst und vernünftig das zu tun, was gerade nötig war. Die Menschen, die ihn umgaben, baute er in seinen Plan ein, als wären sie feste Grössen ohne Eigenleben, informierte die einen nicht über seine Vorhaben und andere falsch, je nachdem was er für dienlich hielt. Und darum ging der Plan schliesslich doch nicht auf …

    Wegen eines Viren-Problems war der Mann – er hiess W. – auf die belastenden Daten der Bankerin, deren direkter Vorgesetzter er war, aufmerksam geworden und hatte ihr vorgeschlagen, gemeinsame Sache zu machen. Die Bankerin wollte die Daten an die Deutsche Steuerbehörde weiterleiten, hatte bereits anonym Kontakt aufgenommen und war auf grosses Interesse gestossen: Das Finanzministerium war bereit 1, 8 Millionen für die Daten zu bezahlen, man rechnete mit Steuer-Nachzahlungen von zwei- bis dreihundert Millionen. Der Deal war nicht geheim, sondern noch vor der Übergabe der Daten-CD an die Steuerfahndung München in der Presse bekanntgegeben worden. Ebenfalls noch vor der Übergabe der CD wurde die in eine Plastikplane eingewickelte Leiche der jungen Bankerin aus der Donau geborgen. Nach einem Einbruch in ihrer Wohnung hatte sie es mit der Angst zu tun bekommen – zu Recht, wie sich nun erwies – und einen Antrag gestellt, ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden, während W., um sie bei der Stange zu halten, ein Verhältnis mit ihr begann. Sonst wäre sie womöglich abgesprungen, so kurz vor dem Ziel …
    Als nach dem Tod der Bankerin herauskam, dass sich die Daten in W.s Besitz befanden, wurde er verhaftet. Doch aus demselben Grund galt jetzt auch das Interesse der Steuerfahndung ihm, das verlieh ihm den Schutz, den er brauchte – das und das Bewusstsein, für den Tod der jungen Frau nicht verantwortlich zu sein, er hatte sie nur gefunden und die Leiche entsorgt, was er freimütig zugab, als der Tatort festgestellt wurde – sein eigenes Schiff, das sich an einem Anleger auf der Donau befand. Die Bankerin hatte sich dort versteckt, weil sie es vor Angst in ihrer eigenen Wohnung nicht mehr aushielt.

    Zweimal wurde W. im Zusammenhang mit dem Tod der Bankerin verhaftet. Zweimal kam er im Auftrag der Steuerbehörde wieder frei – mit der er im Übrigen gar nie die Absicht gehabt hatte zusammenzuarbeiten, genauso wenig wie er je die Absicht gehabt hatte, mit der Bankerin nach Abschluss des Deals nach Kapstadt zu fliegen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Die beiden Flugtickets, die seine Frau in seiner Manteltasche gefunden hatte, weshalb sie ihn zur Rede stellte, als er nach seiner zweiten Freilassung für kurze Zeit zu Hause weilte, waren nichts weiter als eine finanzielle Investition in die Zukunft mit Frau und Kind. Er hatte nie etwas anderes im Sinn gehabt, als sich mit seiner Familie und dem Geld aus dem Erlös der CD ins Ausland abzusetzen. Das neue Leben wollte er mit ihnen beginnen – seinen Liebsten – nicht mit dieser Bankerin, mit der ihn nichts verband, als ein zufällig gerade zum richtigen Zeitpunkt möglich gewordener Deal. Dass ihm seine Frau nicht blind vertraute, war in seinem ebenso wenig Plan vorgesehen, wie die übersteigerte Angst der Bankerin.

    Auch ein Mord war nicht vorgesehen, selbstverständlich. Doch jetzt, da er einmal begangen worden war, eröffneten sich zweifellos neue Möglichkeiten. Eines der durch die Daten am meisten belasteten Unternehmen war eine in Regensburg ansässige Traditionsfirma. Die Unternehmensleitung – ein cholerischer Vater und eine Tochter, die versuchte, den Schaden zu begrenzen – hatte auf nicht näher bekanntem Weg von der Belastung erfahren. Ihr Interesse am Ausschalten der jungen Frau war nachvollziehbar, sie hatten ein klares Motiv: Sie wollten die belastenden Daten aus dem Verkehr ziehen, bevor sie an die Steuerfahnder weitergeleitet wurden, und wenn sie vor Mord nicht zurückschreckten, dachte sich W. (das vermute ich jedenfalls, im Film wird ja selten laut, was in den Köpfen der dargestellten Personen vorgeht), waren sie auch erpressbar. Er verlangte drei Millionen. Die Übergabe klappte. Aber dann, auf dem Flughafen, wartete er vergeblich auf Frau und Kind. Denn erschlagen worden war die unbequeme Bankerin nicht vom cholerischen Seniorchef der Regensburger Traditionsfirma, wie es logisch gewesen wäre, sondern aus Eifersucht von seiner sanftmütigen Ehefrau, die, kaum hatte die Polizei sie in Gewahrsam, in ihrer Naivität brühwarm alles ausplauderte. Je nun – so kann es halt gehen, wenn man nicht mit dem Unberechenbaren rechnet …

    Warum nur habe ich jetzt von diesem Film erzählt? Was will ich an diesem Beispiel zeigen?? Ehrlich gesagt: Ich weiss es nicht. Aber ich nehme an, irgendetwas im Zusammenhang mit Sprache. Mit Wörtern, Sätzen und Geschichten. Dass Sprache lebendig ist, vielleicht, und wohl selten so eindeutig, wie wir es gerne hätten, und dass man sich darauf besser von Vornherein einstellt, es ist ohnehin nicht zu ändern. Und vielleicht, dass Sprache immer genau in dem Mass verlässlich ist, wie der, der sie spricht. Oder schreibt. Im Guten wie im Schlechten. Weil Sprache eine Herzensangelegenheit ist und uns unweigerlich entlarvt, früher oder später, ob wir das wollen oder nicht, und dass deshalb jemand, der sich nicht gern in die Karten schauen lässt, wann immer möglich aufs Schreiben verzichtet, damit man ihn später nicht auf seine Äusserungen behaften kann.
    Ausser – ja – ausser, er ist auf ebenjene selbstherrliche Art arglos, wie der Mann im Film.

  2. Hans Alfred Löffler meint

    Holy Guacamole! Das ist ein Zauberwort, er hiess doch Bucholz der Mann mit den leuchtenden Ohren. Dem hattest Du am Schluss von MÖCHTEGERN aber „nein“ gesagt, die Flasche Wein hattest Du aber hoffentlich noch ausgetrunken …
    … ach könnte ich die Zeit zurückdrehen, wohin denn? Deine Blog erscheint ja immer wieder, also bist Du hier, ganz gleich wo Du bist.
    Es ist immer wieder interessant zu lesen, was Du tust, mit wem Du Dich triffst, was Du denkst.

  3. Cecilia meint

    Liebe Milena
    Ich habe soeben Deinen Blog entdeckt, ehrlich gesagt über einen schweizerischen Umweg. Wir haben ähnliche Wege, leben im Norden New Mexicos und schreiben. Ich freue mich, Deinen Blog häufig besuchen und von Dir lernen zu können. Danke!

    • Cecilia meint

      Das wäre absolut super. Wir sind immer mal wieder in Santa Fe, leben seit Jahren in Taos. Und ja, der Himmel spannt sich nirgendwo weiter als hier! Ganz liebe Grüsse!

    • Cecilia meint

      Liebe Milena, Dein Text spricht mir aus dem Herzen. Ich kenne aus eigener Erfahrung den Unterschied im Schreiben einer Fantasiegeschichte und einer wahren Geschichte. Der Unterschied ist frappant, und ich gestehe, ich liebe beide Arten zu schreiben. Beide haben ihre intuitiven Elemente und erlauben doch eine verschiedene Annäherung an den Text und den Schreibverlauf. Ich freue mich für Dich, dass Du über das Schreiben reden kannst. Dein Reden übers Schreiben in Deinem Blog jedenfalls ist äusserst hilfreich und inspirierend. Danke!

  4. Birgit meint

    Ich freue mich, dass es eine Fortsetzung vom „Glück“ geben soll. Bis zur Erscheinung hole ich gerne ab und an das erste Buch aus dem Regal.
    … und mit dem Yoga habe ich auch wieder angefangen. Wie konnte ich überhaupt nur damit aufhören?

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