Habe ich also noch einmal von vorn angefangen. Mit der verlorengegangenen Geschichte von Luigi, dem Jungen aus dem Tessin, der auf verschlungenen Wegen im Wilden Westen landet, genauer gesagt in Los Alamos, New Mexico. Zum guten Glück ist gerade November. National Novel Writing Month. Der schönste Monat des Jahres, wenn man mich fragt. Und geradezu ideal für diese Phase des Schreibens. In der ich gar nichts weiss. Ausser, dass ich nichts weiss. Statt weiter zu träumen, zu warten, bis ich etwas sehe, werfe ich wildentschlossen Buchstaben auf die leere Seite. Eine Anhäufung von Worten, Sätzen und Bildern, die sich erst allmählich zu etwas zusammenfügen, das ich als Geschichte erkenne. Der vorgeschriebene, atemlose Schreibrhythmus lässt mir keine Zeit, um nachzudenken, um abzuwägen. Ich schreibe mit angehaltenem Atem. Meine Hände jucken. Es kribbelt. Ein Gewitter zieht auf. Etwas passiert hier, unter meinen Fingern, das ich nicht kontrolliere.
Und siehe: Es ist alles anders. Das Jahr ist nicht 1920, sondern 1934. Die Erzählstimme kommt nicht von aussen, sondern von innen. Es die Stimme eines Elfjährigen Jungen. Es ist Luigis Stimme. Und dann kommt eine zweite Stimme dazu und eine dritte. Luigis Sohn, Luigis Enkeltochter. Immer ungefährt elf Jahre alt. Sie wollen die Geschichte so erzählen, wie sie sie erleben. Sie wollen sie nicht nacherzählen lassen. Auch nicht von mir.
Um das zu merken, musste ich die ersten dreissig, vierzig oder fünfzig Seiten – ich weiss nicht einmal mehr, wie viele es waren – verwerfen. Ob ich das freiwillig getan hätte? Vermutlich nicht. Vermutlich hätte es mich gereut: Um die Arbeit, die Zeit. Dabei sind es nur Buchstaben. Worte und Sätze. Jetzt, wo ich die Stimmen der Elfjährigen höre, die mir ihre Geschichten erzählen, verschwende ich keinen Gedanken mehr an die verlorenen Seiten. Aber sie mussten mir mit Gewalt entrissen werden. Das ist immer so, wenn man etwas verliert: Nicht technisches Versagen, nicht die eigene Blödheit führte dazu, nein, die Geschichte verlangte nach ihrem Recht. Das weiss ich jetzt. Deshalb rege ich mich nicht mehr auf, wenn so etwas passiert. Ich vertraue der Geschichte. Und ich bin froh, dass ich nicht mehr jedes Mal den ganzen Computer mit verliere!
Das alles lenkt mich zuverlässig vom 90-Tage-Promotions-Plan ab, der mir mit meiner englischen Übersetzung geliefert wurde. Und der mich vollkommen überfordert. Aber egal. Hauptsache, das Buch ist jetzt da.
Übermorgen, am Tag der amerikanischen Präsidentschaftswahlen, fliege ich nach Atlanta und Washington DC um daraus vorzulesen. Das Timing könnte nicht absurder sein. Aber wer weiss, wozu es gut ist. Wieviele Worte kann man in sechs Stunden schreiben, hoch in der Luft, ohne Ablenkung?
Friederike Mayröcker, einmal mehr: „Man will dahin, wo man nicht weiss, wo es ist. Es ist eine Sucht.“
Hermien meint
Liebe Milena,
deine Blogeinträge beflügeln mich, lassen mich nicken und sie sind nie langweilige.
Danke dafür!
Hermien
Hans Alfred Löffler meint
An den Luigi kann ich nicht so richtig glauben, die Jahreszahl 1934 macht mich nervös.
Aber die Friederike Mayröcker hatte ich gegoogelt weil ich die nicht kannte, dabei wird sie am 20. Dezember 92 Jahre alt.
Und wenn ich schon Google, dann finde ich auch; Dich. Ich bin zwar noch nicht fertig mit der Bibel, bei Moses blieb ich stecken der kommt dann wieder …
Jetzt gibt es für mich
FOOL’S JOURNEY
or How I Chased After Happyness Just To Find It Waiting For Me
and then opened it and read,
—
„The Rowboat: A Dream“
Gabriele and I are in a wooden rowboat. The wood is rotten; water comes in through the planks. We row and row and don’t advance an inch. Far out a container ship sits, loaded with colorful containers. It doesn’t seem to be moving. We row toward it but don’t get any closer. Despair fills us, leaks in through crevices like the dirty bay water. Gabriele wants to give up. But there is no quitting: I spy the fin of a shark.
—
Ich weiss dass ich Deine Erlaubnis brauche um diesen Text zu veröffentlichen. Also lass den einfach weg das andere ist auch wahr, und vor allem das ich das Buch gefunden hatte und gleich kaufen musste, durfte oder etwa nicht? Herzlichen Dank dafür, ich lese für mein Leben gerne Bücher in englischer Sprache.
regenfrau meint
Liebe Milena,
wie spannend!
Spannend, dass Luigi und seine Nachkommen sich nun selbst zu Wort melden. Was für eine Neuentwicklung!
Ebenso spannend deine Lesetermine. Der Termin – hihi. Wie du schreibst: wer weiß, wozu es gut ist.
Milena Moser meint
Es ist definitiv „something to write home about“ ….