Bedingungsloses Schreiben.

127Ich will ja niemanden neidisch machen, aber letzte Woche schrieben wir unter solch idealen Bedingungen, wie sie sich nur eine durchgeknallte afghanische Prinzessin ausdenken konnte! Das ist keine Redewendung aus Santa Fe, sondern Tatsache: Es war eine afghanische Prinzessin, die sich diesen schrägen Traumpalazzo in den Hügeln hoch über der Stadt gebaut hat, mit seinen himmelblauen Kuppeldächern, die aus den immergrünen Pinienhainen ragen. Mit seinen verschlungenen Wegen, im Haus und im Garten, seinen Nischen und Verstecken. Mit seinem unverstellten Weitblick. Man meint, das Ende der Welt sehen zu können. Hier scheint alles möglich. Wo sich hundert vergoldete Buddhastatuen mit ebensovielen Porzellanbüsi vertragen und über allem bunte Lämplein glimmen, da kann man auch den grossen Amerikanischen – oder Schweizer – Roman schreiben.

Vor allem, wenn das Internet nur sporadisch funktioniert und das Essen von zwei diskreten blonden Jungs geliefert wird und man sich um nichts anderes kümmern muss als um sich selbst. Beziehungsweise um die neun Versionen seiner selbst, die sich im Schreiben entwickeln. Wer schreibt, hat neun Leben. Wie eine Katze.

Seit meinem letzten Kurs sind gut 18 Monate vergangen. Schön: Es ist alles noch da. Die Leidenschaft, der fast missionarische Eifer. Es gibt kaum etwas Schöneres für mich als der Entstehung von Geschichten beizuwohnen, die so einzigartig sind wie ihre Autorinnen. Mitzuerleben, wie jemand das Schreiben neu entdeckt. In meinen Träumen sehe ich mich als Superheldin in einem gelben Trikot, einen riesigen Bleistift als Waffe  – oder vielleicht Flughilfe – tragend. So breche ich nachts in die Schreibzimmer ein und befreie die ungeschriebenen Geschichten, die in den Schubladen eingeschlossen sind und vor sich hin wimmern: „Mileeeeennaaaaaa…. rette uns! Hol uns hier raus!“

Ähem. Ja. Genau. Gerade hatte ich der Gruppe erzählt, dass es nicht so schlimm ist, wenn man mal ein paar Seiten verliert. Oder auch dreissig. Das passiert mir immer wieder. Zweimal habe ich einen Laptop in der Sicherheitskontrolle eines Flughafens liegen gelassen. Und nicht wiederbekommen. Jedes Mal mit einem angefangenen Roman, dreissig, vierzig, fünfzig Seiten. Ich nahm die Herausforderung an: Will ich diese Geschichte wirklich schreiben? Muss ich sie schreiben? OK; dann fang ich eben wieder von vorne an. Es sind nur Buchstaben. Es ist nur Zeit.

Ich geniesse die Reaktion der Gruppe: Ja, gell, so cool möchtet ihr auch mal sein! Dann klappe ich meinen Laptop auf. Endlich will ich mich wieder Luigi zuwenden, den ich während der Arbeit am autobiographischen Buch vernachlässigt habe. Doch Luigi ist weg. Ich habe einen neuen Computer gekauft. Alles wurde mit gezügelt, jedes Büsi-Video, das ich je heruntergeladen habe – aber nicht Luigi.

Tief durchatmen. Cool bleiben. Warum muss mein Leben immer zur Holzhammermethode greifen? Warum muss ich mich immer überprüfen? Ich schlucke leer, doch ich bleibe dabei: Es wird Luigi nicht schaden, wenn ich ihn noch einmal von Anfang an begleite.

Die Gruppe zeigt Verständnis. Sie akzeptiert meine Theorie. Trotzdem, findet sie, das muss nicht jedes Mal sein. Und schenkt mir zum Abschied eine externe Festplatte. Da muss ich dann doch ein Tränchen verdrücken…

Und noch etwas: So sehr ich diese Woche genossen habe, dieses gemeinsame, konzentrierte Schreiben unter idealen Bedingungen, weiss ich doch: Die Bedingungen sind letztlich egal. Ich muss mich nur hinsetzen können. Jeden Tag. So lange die Jungs das Essen bringen…

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Leser-Interaktionen

6 Kommentare

Kommentare

  1. Heather Cohn meint

    Congrats zur englischen Version von „Das Glück sieht immer anders aus“,
    liebe Milena!!
    Good luck – und viel Spaß bei den Lesungen in Atlanta und in D.C.!

  2. Mirko meint

    Grüezi Milena,

    Meine Muse ist so weit, weit weg!
    Was – Reunion, irgendwo im indischen Ocean?
    Wochenlang singe ich mit Endo Anakonda:
    Hüt chunnt sie hei, het sie gseit…

    Jetzt aber geniese ich deinen Achterbahn.
    Die neun Versionen seiner selbst…
    Yeah, der Vergleich mit „Neun Leben der Katzen“ ist graziös.
    In Kroatien sagen wir dass von diesen neun Katzen-Leben
    „drei verbring sie spielend,
    drei ist sie weg,
    und drei zu Hause“.
    Und du, du bist jetzt Nomadin, spielend, und doch zu Hause?
    Ach, nein, du bist auch so weit, weit weg.
    Schöne Zeit in neuem Welt und Herbstgrüsse aus Zürich.

    Ich stelle mir vor, schöne Franziska wird nachher nach Ocean und Vanille riechen.

  3. regenfrau meint

    Liebe Milena,

    Luigi verloren im Palastgarten? Wie weit mag er da gekommen sein? Ich sehe ihn da eher ganz in deiner Nähe herumkauern und darauf warten, dass du dich ihm wieder zuwendest. Dann kommt er bestimmt wieder – nur die Wörter waren weg.

    Eine externe Festplatte…. schöne Idee!

    • Milena Moser meint

      Genau! Das seh ich genau so: Nur die Wörter sind weg. Und sie werden schon ihren Grund dafür haben…. Luigi hingegen ist sehr präsent – vielleicht wollte er einfach noch einmal anders erzählt werden?

  4. Hans Alfred Löffler meint

    Aber ja doch: neidisch sein und bewundernd, gehört irgendwie zum menschlichen Naturel und sei nur mein eigenes. Einen wunderschönen Blogbeitrag hast Du uns beschieden und den Luigi wieder auferstehen lassen. Ein wahres Wort zum Sonntag. Dankeschön.

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