Nachtschicht im November.

Ich schreibe. Ich schreibe viel. Oder auf jeden Fall mehr als in den letzten zehn Nanowrimos. Obwohl das Leben auch dieses Jahr wieder im November wie auf Kommando über mir zusammenschlägt. Doch etwas ist anders: Ich schreibe nachts.

Das habe ich seit gefühlten hundert Jahren nicht mehr getan. Oder sagen wir, seit fünfunddreissig Jahren, seit ich mit meinem ersten Kind schwanger war. Das veränderte damals alles, und das war gut so. Ich hatte nämlich vor allem deshalb ausschliesslich nachts geschrieben, weil das meiner verschwommenen romantischen Vorstellung einer Schriftstellerin entsprach, ebenso wie der übervolle Aschenbecher auf dem Schreibtisch und das halbleere Weinglas daneben. Ich glaubte, Geschichten brauchten die Dunkelheit, um zum Leben zu erwachen. Im Nachhinein wundert mich nicht, dass ich damals nur selten etwas zu Ende brachte. Die frühe Mutterschaft und die damit verbundenen Einschränkungen disziplinierten mich. Und führten dazu, dass ich abends meist todmüde ins Bett fiel, unfähig, einen Gedanken zu Ende zu denken, geschweige denn aufzuschreiben.

Mehr und mehr verschob sich mein Schreiben in die frühen Morgenstunden, und irgendwann verfestigte sich diese Erfahrung zur Gewissheit: «Ich kann morgens am besten schreiben. Wenn ich nachts schreibe, kommt nichts Vernünftiges bei raus.» Doch Gewissheiten sind bekanntlich dazu da, über den Haufen geworfen zu werden. So auch diese.

Inspiriert dazu hat mich Jay, meine momentan jüngste Kursteilnehmerin, die nicht wirklich so heisst. Jay ist fünfzehn Jahre alt, ihr Alltag ist, wie es ihrem Alter entspricht, fürchterlich anstrengend. Warum vergessen wir immer, wie überlastet die Jugend ist? Schule, Sport, Musik, Berge von Hausaufgaben, Projekte, Training, Proben…. «Jeden Tag zwanzig Minuten schreiben?», fragte sie verzagt. «Hm, okay, vielleicht nach 22 Uhr? »

Das konnte mein Mutterherz nicht zulassen. «Gibt es in deinem Tagesablauf denn gar nichts, was du streichen könntest?»

Sie zögerte. «Naja, manchmal schau ich mit meiner Mama Netflixserien….»

«So weit kommt’s noch! Nein, das gibst du zuallerletzt auf. Ich meinte eher etwas, das dir nicht so Spass macht…»

«Die Schule…?», fragte sie hoffnungsvoll. So kamen wir nicht weiter.

Am Ende nahm ich ihr das Versprechen ab, dass sie einfach jeden Tag einmal bei ihrer Figur reinschauen, mit ihr Kontakt aufnehmen würde. Und dass sie jeden Tag einen Satz schreiben würde. Nur einen Satz. «Ausser natürlich, es packt dich plötzlich und du kannst gar nicht aufhören», sagte ich. «Und nur, wenn es sich nicht wie eine weitere Hausaufgabe anfühlt….» Das würde öfter passieren, als Jay sich jetzt vorstellen konnte. Da war ich mir sicher. Ich weiss schliesslich um die Verführungskraft von Romanfiguren, ich vertraue auf sie. Mehr als auf alles andere, und definitiv mehr als auf Arbeitspläne und Disziplin.

Und weil ich alles, was ich in meinen Kursen vermittle, auch selbst ausübe, gab ich mir dasselbe Versprechen. Einmal am Tag schaue ich bei Sofia vorbei. Egal wann. Auch wenn mir dieser November meinen Tagesablauf über den Haufen geworfen hat. Auch wenn es nicht meine bevorzugte Schreibzeit ist. Auch wenn ich meine, zu müde zu sein. Ich klopfe bei ihr an. «Nur kurz», sage ich. «Nur auf einen Satz.» Doch es scheint immer, als hätte Sofia nur auf mich gewartet. Jeden Abend nimmt sie mich an der Hand und zieht mich ungeduldig über die Schwelle in Welt hinein.

«Komm, schnell, ich muss dir war zeigen!», ruft sie. Und ich folge ihr. Was ist jetzt wieder los? Was ist ihr heute zugestossen, durch den Kopf gegangen, woran hat sie sich erinnert? Wohin führt sie mich, was will sie mir zeigen? Nur das ist wichtig, nur das zählt. Alles andere fällt von mir ab.

«Schreib auf!», befiehlt Sofia. Und ich schreibe. Wer bin ich, um meiner Figur zu widersprechen? Wenn sie meine Hand wieder loslässt, sind ein paar Stunden vergangen, ein paar Seiten geschrieben. Ich hebe den Kopf vom Bildschirm und merke plötzlich wieder, wie müde ich bin.

Gute Nacht, Sofia. Bis morgen.

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