Vierte Hürde: Hab ich fertig?

Diese letzte Hürde ist nicht die grösste, nicht die gefährlichste, sie ist mehr ein Zögern als ein Stolpern oder gar Straucheln. Die vierte Hürde ist die bange Frage: Wann ist die Geschichte zu Ende erzählt? Und wie merke ich das?

Als ich meine ersten Mordgeschichten veröffentlichte, wurde ich oft gefragt, warum diese immer so abrupt (ganz zu schweigen von brutal) endeten. Die Antwort war damals eine vollkommen unliterarische: Weil mein Sohn aufwachte. In dieser grauen Vorzeit, als es in der Schweiz noch keine bezahlbare und leicht zugängliche Kleinkinderbetreuung gab (was sich in den letzten dreißig Jahren bestimmt geändert hat…. oder …???), versuchte ich, gleichzeitig ein Kind großzuziehen und Bücher zu schreiben, und das allein. Ich schrieb für Geld, und ich schrieb für mich. Ich schrieb, während mein Kind schlief. Anfangs trat dieses Wunder zweimal täglich ein, später nur noch einmal. Und wie lange diese glorreiche Zeit dauern würde, wusste ich nie. Zwischen zwanzig Minuten und zwei Stunden war alles möglich. (Und ja, natürlich schlief er auch nachts, aber dann war ich zu nichts mehr zu gebrauchen.) Damals habe ich gelernt, den Moment zu nutzen. Kaum schlief der kleine Prinz, setzte ich mich an den Schreibtisch. Ich schrieb, bis ich die ersten Geräusche aus seinem Bettchen hörte. Dann hörte ich auf, manchmal mitten im Satz. Was gar keine schlechte Taktik ist. Viele meiner Schreibgewohnheiten, die damals aus der Not entstanden sind, die ich mir gezwungenermassen angeeignet habe, behalte ich heute noch bei. Weil sie funktionieren.

Doch natürlich träumte ich damals von ausschweifenden Romanen, die mehrere Generationen umspannten. Ich wünschte, ich könnte in meinen Parallelwelten versinken, Monate und Jahre lang, hunderte von Seiten tief. Doch wenn mein Sohn wach war, musste ich da sein. Präsent. Ich konnte es mir nicht leisten, zu träumen. Meine Geschichten weiterzuspinnen. Zwei, drei Tage konnte ich ihnen widmen, fünf, sechs Schlafperioden, nicht mehr. Da wurde das Ende halt manchmal mit Gewalt herbeigeführt, sowohl in der Handlung, wie auch am Schreibtisch.

Heute sagen mir die Figuren, wann die Geschichte zu Ende erzählt ist. Und ob sie sich in den Rahmen eines Auftrags pressen lassen. Manchmal fordern Figuren mehr Platz als vorgesehen ist. Sie verlangen nach einem anderen Format, nach einer längeren Geschichte, einem eigenen Buch.

Die Geschichte von Sabine und Esthi, den alten Freundinnen, die «aufhören, wie sie angefangen haben» hatte eine klare Vorgabe: Soundsoviele Zeichen. Doch das kümmert die Figuren nicht immer. So hielt ich auch, während ich den wildwuchernden ersten Entwurf büschelte und striegelte, immer wieder inne. Ich legte den Kopf schräg, ich lauschte. Hörte ich sie noch tuscheln, die beiden? Wollten sie mir noch etwas erzählen? Konnte ich ihre Schatten in einer Ecke meines Schreibhäuschens ausmachen? War da noch mehr?

Doch Sabine und Esthi waren verschwunden. Ich hatte sie ausgeschrieben. Ich seufzte. Es ist nicht in erster Linie Glück, das mich erfüllt, wenn ich eine Geschichte beende. Es ist viel eher ein Abschiedsschmerz. Und das ist das untrügliche Zeichen, dass ich wirklich fertig bin, diese gewisse Wehmut, die mich dann erfüllt.

Die Figuren verlassen mich. Ich falle aus ihrer Welt, dieser Parallelwelt, in der ich die letzten Tage, Wochen, Monate, Jahre verbracht habe. So real sie sich anfühlte, jetzt löst sie sich auf. Und ich muss mich wieder in dem zurechtfinden, was man gemeinhin die Realität nennt.

Bis sich die nächste Figur meiner erbarmt.

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