Das unbestechliche Auge

100322_korrekturzeichen

Es muss sein. Es muss jetzt sein. Die Druckfahnen werden korrigiert, übers Wochenende, schnell, schnell. Ein Vorabexamplar wird gedruckt, für die Buchhändler und Journalistinnen, die bis im Herbst bestimmt vergessen haben, was sie gelesen haben und warum. Aber egal. Es muss sein, es muss jetzt sein, übers Wochenende. Die Druckfahnen sehen heute nicht mehr aus wie Fahnen. Der Begriff stammt aus einer Zeit, in der der erste Andruck ohne Seitenumbruch gemacht wurde. Heute ist im Gegenteil der Umbruch vorgegeben, der Satzspiegel muss bei den Korrekturen berücksichtigt werden, nicht dass am Ende Hurenkinder geboren werden, Schusterjungen entkommen. Das heisst, die letzte Zeile eines Kapitels steht einsam und allein auf einer neuen Seite, beziehungsweise, die erste Zeile eines Absatzes am Ende einer vollen Seite. Was ein Zwiebelfisch ist, wusste ich nicht, ich musste es nachschlagen: Ein Zeichen aus einer falschen Schriftart. Passiert mir oft mit den Anführungs- und Schlusszeichen, keine Ahnung warum.

Ich nehme mir also die Fahnen vor. Dabei sehe ich gar nichts mehr. Den Wald vor Bäumen nicht. Ich habe jeden Satz so oft gedreht und gewendet, dass ich nicht mehr weiss, ob das, was ich lese wirklich da steht oder in meinem Kopf so abgespeichert ist, wie ich es gerne hätte.

Auftritt Franziska Schwarzenbach. Die Unbestechliche. „Wie nun?“, fragt sie. „Nimmt Suleika ab ihrem zwölften Lebensjahr langsam aber stetig zu, wie auf Seite dreissig steht, oder mit vierzehn rasant, siehe Seite 156? Wieviele Kinder konnte Marie in knapp zwei Jahren gebären? Und wie stellst du dir das vor, dass Erika auf Seite 143 gleich zweimal das Zen-Center betritt? Und ist dieses Zen-Center nun ein leeres Zimmer oder voller schwarzgekleideter Menschen???“

Wie bitte? Ich schaue nach, und tatsächlich:

Mit einer Geste forderte sie Erika auf, ihre Schuhe auszuziehen und in die Reihe zu stellen. Dann führte sie sie durch einen kurzen Flur in ein nahezu leeres Zimmer. In der Mitte des Raums stand ein kleiner Altar. Eine Buddhastatue, ein paar Blumen in einem Wasserglas, eine Kerze. An den Wänden lag eine Reihe rechteckiger schwarzer Kissen. Auf drei oder vier davon saßen Leute. Im Schneidersitz auf einem zweiten, runden Kissen oder aufrecht auf einem Stuhl, der auf dem schwarze Kissen stand. Sie hielten die Hände im Schoß und den Blick gesenkt, alle trugen Schwarz. Erika schaute an sich hinunter, die helle Jeans und das weiße T-Shirt, das sie fast täglich trug, wirkten fehl am Platz. Aufdringlich. Sie streifte ihre Schuhe ab. Ihre Füße waren nackt. Sie schämte sich ihrer aufwendig verzierten Gelnägel. Sie fühlte sich mutlos. Die Sensei legte eine Hand auf ihren Rücken, als hätte sie das gespürt.

«Tu einfach, was die anderen tun», sagte sie. Doch die anderen taten nichts. Erika wartete einen Moment. Nichts geschah. Dann tauchte hinter ihr ein junger Mann auf. Er trug tiefsitzende schwarze Trainingshosen und einen leuchtend blauen Kapuzenpullover. Die Kapuze verbarg sein Gesicht. Erika fürchtete sich vor jungen Männern, die so aussahen. Wie Kriminelle. Obwohl sie wusste, dass Suleikas Mitschüler am Gymnasium, wohlerzogene und behütete Jungen, genau so angezogen waren. Sie presste ihre Tasche an sich. Der junge Mann lächelte ihr zu. Dann schob er seine Kapuze in den Nacken. Erika sah, dass er eine Glatze hatte. Ob das ein Zeichen höherer buddhistischer Weihen war? Einen Moment lang gab sie sich der Vorstellung hin, ihren eigenen Kopf kahl zu scheren, die halblangen blondgefärbten Haare loszuwerden und mit ihnen die Verpflichtung, alle drei Wochen zum Friseur zu gehen. Der junge Mann forderte sie mit einem Nicken auf, ihm zu folgen. Er legte die Handflächen zusammen und verbeugte sich in demselben Moment, in dem er über die Schwelle in den leeren Raum trat. Erika versuchte es ihm nachzumachen, während sie gleichzeitig ihre Tasche an die Brust presste.

Wie oft habe ich diese Szene geschrieben, gelesen, noch einmal geschrieben? Schlimmer, wie oft habe ich diese Szene erlebt? Vorsichtig stelle ich die Abschnitte um, bis der Ablauf wieder stimmt. Gerade noch rechtzeitig schicke ich alles zurück. Heute Morgen früh um sechs betrete ich das Zendo wie am ersten Tag. Ich beobachte alles ganz genau. Diese Abläufe, die mir unterdessen so vertraut sind, dass ich sie automatisch ausführe. Ich erinnere mich, wie fremd mir das war, an diesem ersten Morgen vor drei Jahren. Wie genau ich mir alles anschaute und mir zu merken versuchte. Ich wollte ja keinen Fehler machen, nicht unangenehm auffallen, auch nicht im Sitzen, auch nicht in der Stille. Habe ich nicht diese Erinnerung ganz genau beschrieben?

Offensichtlich nicht. Denn ich trete auch heute morgen nicht zweimal über die Schwelle. Oder jedenfalls nicht im wörtlichen Sinn.

Und hier noch mein Lieblingszeichen, das „deleatur“: Es möge beseitigt werden. Grossartig, finde ich. Und so notwendig. Nicht nur auf den Fahnen.

Deleatur,_Pfennig

 

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5 Kommentare

Kommentare

  1. Hans Alfred Löffler meint

    «Heute geht es in meinen Augen vieles zu weit, jetzt muss jeder Handgriff mit einem Diplom abgesegnet und nachher bürokratisch überprüft werden. Was die Bürokratie und die Verwaltung heute von den Leuten verlangt ist unmenschlich.» erzählte Frau Lilly Vogel im Buch DAS VOLLE LEBEN, Frauen über achtzig erzählen, von Susanna Schwager (Seite 85).

    • Hans Alfred Löffler meint

      Die letzte Geschichte im o.e. Buch wurde wurde am TV teilweise erzählt „Aus Aeschbacher vom 27.11.2008, 22:29 Uhr“: Marie Zürcher brachte in 40 Jahren über 2000 Kinder zur Welt. Die genaue Zahl verrät die Hebamme aus dem Emmental nicht. Die 81-Jährige freute sich so sehr über jedes geborene Kind, dass sie nie eigene hatte. Die Neugeborenen waren ihr immer wichtiger als die Männer. Doch heute sehnt sie sich manchmal nach einem Ehemann, der zu Hause auf sie wartet.
      http://www.srf.ch/player/tv/aeschbacher/video/marie-zuercher?id=6b6e766e-b1f1-4c28-8c7c-724bb0b8f05e

  2. Jürg B. Stalder meint

    Ja, diese Korrekturzeichen — das sind so Dinge, die lernt man je nach Ausbildung einmal, vergisst sie dann aber wieder, so man sie nicht weiter braucht. Oder aber behält das eine oder andere im Gedächtnis, wendet sie später einmal an – auch ganz privat… Es ist ja ohnehin so. M u s s man irgendetwas lernen, weil es für einen Lehrgang, fürs Fortkommen (?) nötig ist, so ists später im Oberstübchen meist nicht mehr zu finden. Anderes dagegen, völlig Unwichtiges, kommt irgendeinmal wieder hervor. Man fragt sich: Wie war jetzt das schon wieder..?

  3. Fredy Kradolfer meint

    Liebe Milena

    Ich kann Dir gut nachfühlen – ich bin im Moment auch gerade am Lektorierne eines Buches – allerdings nicht eines eigenen. Es ist von einer Freundin geschrieben worden Zwiebefische, Hurenkinder, Schusterjungen und Waisenkinder machen mir (als gelerntem Schriftsetzer) zwar nicht so viel Bauchweh. Aber einen fremden Text zu lektorieren und dabi das richtige Mass finden (laufen lassen oder umstellen?) ist auch nicht ohne …

    Liebe Grüsse, Fredy

    • Milena Moser meint

      @ Fredy: das ist das Schwierigste überhaupt – eine ungeheuer verantwortungsvolle Rolle, die zu wenig Respekt bekommt.
      @ Jürg: Genau. Das deleatur ziert meinen Kalender ebenso wie das ô (buchhändlerisch für nicht)

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