Schmürzel

Die Schriftstellerin ist ausgebrannt. Kann das überhaupt sein? Da ich trotz aller Therapien und Meditationen ein relativ unbewusstes Wesen bin, sehe ich oft erst an meiner Lektüre, wie es mir geht. Die meist nur angelesenen Selbsthilfetitel in meinem Regal geben ungeniert Auskunft über sämtliche Phasen meines Lebens. In letzter Zeit habe ich mir an den diversen Bahnhofskiosken der deutschen Schweiz, die ich gerade intensiv bereise, nicht wie üblich hochglänzende Klatschzeitschriften gekaut, sondern diese ernsthaften Sonderhefte: Wenn die Seele leidet. Was die Seele stark macht. Die gestresste Seele. Was ist noch Erschöpfung, was ist schon Krankheit?

Ich lese das alles, als ginge es mich an. Ich mache einen Test und erreiche Burnout Stufe 4. Machen Sie einen Termin mit dem Betriebsarzt oder einem Therapeuten aus. Ich identifiziere mich mit ausgebeuteten und gemobbten Angestellten, dabei führe ich ein weitgehend selbstbestimmtes Leben und komme auch gerade von einer sehr schönen Lesung, wo alle sehr nett zu mir waren. Ich habe sogar einen Mann getroffen, dessen Bücher von Engeln diktiert werden, er stand vor mir am Signiertisch, ein grosser, ungepflegter Mann mit Augen wie offene Flügeltüren. Die Buchhändlerin versuchte ihn diskret zur Seite zu ziehen, ich schüttelte den Kopf, ich unterhielt mich gern mit ihm. So fremd war er mir nicht. „Als wir noch klein waren, konnten wir sie alle hören“, sagte der grosse Mann und ich nickte. Einige erzählten mir von Angriffen im Internet, denen ich ausgesetzt sei, und wie sie mich dort verteidigt hätten. Sie waren enttäuscht, dass ich gar  nichts davon wusste. Ich hingegen war froh darüber. Ein junger Mann mit rotgefärbtem Haar erzählte, er sei bei meinen ersten Worten sofort eingeschlafen, es sei super gewesen. Er reichte mir ein Päckchen: Das sei von Alex Capus, Alex Capus dem Schriftsteller, er lasse sich entschuldigen. Ich bedankte mich höflich. Später wickelte ich das Geschenk aus. Es war ein in ein Foto von mir gewickelter, leicht angeschimmelter Flammenkuchen von Anna’s Best, dazu ein Filzstift. Unheimlich.

Als ich später am Bahnhof stand (das Herumstehen auf zugigen Perrons: Kein Wunder!) zitterte ich zum Teil vor Kälte, zum Teil wegen dem Fieber. Ich hatte die Tränen zuvorderst und dachte gleichzeitig: Das kann doch alles nicht sein. Jetzt reiss dich mal zusammen, Moser. Krise war letztes Jahr.

Aus dem Zugfenster sah ich einen verhangenen Mond. Achso, dachte ich.

Magdalena meinte, es sei nicht nur ein Vollmond gewesen, sondern auch a terrible sun storm, retrogrades and all sorts of upset – ich weiss nicht, ob das alles erklärt, oder nichts. Oder ob es mich aus der Verantwortung entlässt, das zu tun, was die Sonderhefte raten: für eine anständige work-life-balance zu sorgen. Die Arbeit ist mein Leben. Müsste es noch etwas anderes geben? Warum? Nur so ist es zu erklären, dass ich ausgerechnet im März, wo ich fünf Kolumnen, zwei Kurzgeschichten und sechs Radiogeschichten abliefern muss, ausserdem zehn Lesungen, vier ganztägige Kurse, zwei Vorträge vor Studenten und einen Auftritt mit den Unvollendeten habe, diese Zehntausendzeichen-Verrücktheit anreisse. Damit das freie Schreiben nicht zu kurz kommt. Weil das freie Schreiben meine Balance ist.

Ich schreibe einfach nicht mehr für die Zahlen. Nicht mehr (gezielt) für den Roman. Ich schreibe über mich, eine Art Tagebuch. Was ich übers Lesen nicht klärt, klärt sich beim Schreiben. Und fliesst langsam wieder den Figuren zu. Und ja, Anke, das Tagebuch ist im selben Chaosdokument untergebracht wie die anderen ineinander verhedderten Geschichtenstränge. Geschichtensträngeanfänge.

Magdalena: 8.3. 1500 words, 9.3. 2000 words, 10.3. 2100 words – that sad sack heroine is finally growing some back bone!

Milena: 8.3. Null, 9.3. 9581, 10.3. 8232 , 11.3. 11’242

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15 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Haus-Horlacher meint

    Was in meinem Leben momentan gut läuft:

    Ich darf schon zum zweiten Mal innert vier Monaten Erstleserin eines soeben fertig gestellten Manuskripts sein.

    Am 11.3.12 um 2.30 Uhr (Schlaflose Nacht oder Übersee?) hat sich in Milenas Blog ein Valentin zugeschaltet. Er findet ihn „super, spannend, sehr hilfreich und motivierend“. Balsam für meine Seele! Immerhin habe ich in diesem Blog vor Kurzem einen Bestseller veröffentlicht, der möglicherweise mitgemeint ist :-)

    Ich nehme wieder ab.

    Die elfte Überarbeitung des „schwarzen Sofas“ fällt mir weniger schwer als befürchtet. Ich bin schon auf Seite 72, und der grauenhafte Schmerz, der vom Hals in den Kiefer vorstösst und dann Zähne und Wangen erfasst, hat mich bis jetzt noch kein einziges Mal überfallen.

    In der Wohnung über mir wird gehämmert und gebohrt. Sie steht zurzeit leer und wird renoviert.
    Ich komme auf die Idee im Internet meine Adresse zu googeln. Tatsächlich ist die Wohnung ausgeschrieben, und ich kann mir die Fotos ansehen. Wie ich mir vorgestellt habe, ist sie fast gleich wie meine eigene. Sie hat ein Fenster weniger, dafür eine schöne Balkendecke und einen Einbauschrank. Küche und Badezimmer sind identisch.
    Da fällt mir ein: Demnächst werde ich einen neuen Nachbarn bekommen! Ob er sich bei mir vorstellen wird? Ich hoffe es.

    Liebe Grüsse

  2. Isabel meint

    Die Lücke zwischen den Spuren
    Natürlich ist alles ineinander gewoben. Beruf uns Ausserberufliches klar zu trennen, ist meistens schwer, besonders dann, wenn Beruf auch Leidenschaft ist. Äussere störende Reize ausschalten, in dem man sich auf etwas Anderes einlässt, die Spur wechseln, zeigt mir, wie relativ das Fesseln an etwas Äusseres ist.

    Beim ständigen Springen von einem Gefesseltsein in das andere Ergriffensein hat für mich – in der Zeit des Reifens :) ! eines an Bedeutung gewonnen: die Lücke. Nicht einfach Entspannung. Die kurzen Momente des Nichts. Machtvolle Präsenz. Und eine Notwendigkeit, um dem Burnout zu entgehen. Burnout ist Leben ohne Lücke.

    • Isabel meint

      @ Das mit der Lücke ist eine Sache des Findens, denn sie ist bereits da…Man kann den Weg gehen über die Bezähmnung der Gedanken (Rituale der Religionen, Körperübungen, Mantren, Beobachten des Atems) oder durch die Präsenz im Augenblick (Achtsamkeit) – ich glaube, das ist typbedingt. Spontan erfahren wir sie alle; um sie immer wieder zu erfahren, muss die Lücke Platz haben in unserem Bild – so wie die Pausenzeichen in der Musik; sie sind die Momente, die am intensivsten sind, wenn die Musik entsprechend empfunden und gespielt wird. (Die grösste Herausforderung in der Musik!) Eine Lücke ohne umgebende Aktivität ist unser Tod – nehme ich an. Nur durch den Wechsel ist beides erfahrbar.

  3. Gise Kayser-Gantner meint

    … ich brauche Hilfe, Milena!
    Was bedeutet „schmürzel“? Selbst google weiss nix richtix anzubieten!
    Kleiner Inga-Tipp gegen das Bibbern auf Perrons: Seidenunterhosen lang, Seidenunterhemd, langärmelig. Wenn’s heiss wird kühlt sie, die Seide, wenn’s kalt wird, umschliesst sie Dich wie eine zweite Haut! Könnte ein Rat von Imke sein!
    Es war wieder sehr inspirierend! Liebe Grüsse, Gise

    • Milena Moser meint

      @ Gise: schmürzel, abgeleitet von schmürzeln: auf kleiner Flamme verbrennen. Beziehungsweise, das Geräusch, das dabei entsteht. Ausserdem gibt es das Theaterstück Le Schmürz von Boris Vian, aber das ist wieder eine andere Geschichte…

  4. Barbara meint

    Ach liebe Milena, gleich wirst du lesen, dass ich gerade auf dem Weg war etwas ganz anderes zu bloggen, und nun entdecke und lese ich deinen neuesten Eintrag. Nur soviel, damit ich den Schwung nicht verliere und vielleicht etwas von dem Feuer wieder an dich zurückgeben kann, das du mit deinen Einträgen bei mir entfachst: Ich bin Psychologin und Mensch (-: und vertrete mittlerweile sehr überzeugt die Meinung (und auch die praktische Erfahrung die ich mit Klient/innen und auch selber mache), dass eine Menge dieser Ratgeberliteratur nicht glücklicher sondern unglücklicher macht.
    Und nun zum Hipphipphurra und Jippiii – ich habe meine innere Schallgrenze durchbrochen, heute 10301 Zeichen, ein Rekord, begleitet von bling-bling-bling-Orgien … Wunderbar! Ein einziges Wort hat diese Schreibflut ausgelöst: „Uterus“. Am Freitag habe ich auf der Fahrt ins Engadin den Laptop aufgeklappt. Ein paar Sätze blablabla und plötzlich dieses Wort. Uterus. Uterus? Ok. Weiterschreiben, weitertippen, einfach drauflos, ohne zu kontrollieren. Und dann: Selma ist Gynäkologin! Aha. Weiterschreiben. Sätze um Sätze reihen sich aneinander. Und heute gleich nochmals. Nach einem seltsamen Einstieg mit einem anderen Wort – mit dem ich mich hier nicht outen werde! – geht es zurück zu Selma, hin zu ihrer Angst, zu ihrer Traurigkeit über den einsamen Tod früh sterbender Embryos, hin zu Friedrich, der ihr eine Psychotherapie empfiehlt, weil er meint, dass sich da etwas über sie offenbart, … es schreibt und schreibt und schreibt … Und noch etwas, liebe Milena, Marius (eine andere Figur) ist, glaube ich, ausgebrannt, er nennt es zumindest so bzw. sein Vater. Kann es nicht sein, dass eine deiner Figuren sich ausgebrannt fühlt? Oder könnte eine deiner Figuren bzw. eine neue diese Frage von dir übernehmen?
    Ich bin fasziniert. Fasziniert von der Erfahrung, dass ein Wort soviel auslösen kann, ein Wort aus dem off, vom dem ich nicht weiss, woher es kam. … Eine mögliche Antwort gibt Sigmar Polke mit seinem Bild, auf dem steht: „Höhere Wesen befahlen, rechte obere Ecke schwarz malen.“
    Aus einem vergnügten Schreibsonntag grüsse ich euch alle herzlich, Barbara

    • Regula Haus-Horlacher meint

      Ah, Barbara, ich bin so GESPANNT auf Dienstagabend! Du bringst etwas zum Vorlesen mit, gell?!
      Ganz liebe Grüsse
      Regula

  5. Karin meint

    Liebe Milena, ich weiß nicht ob es wirklich die Sonnenstürme waren. Mir ging es, bis gestern recht ähnlich. Montag hatte ich das Gefühl, nur aus Oberflächen zu bestehen die ich in die Außenwelt projektiere und das dieses meine ganze Kraft aufsaugt, plötzlich platzte eine Oberfläche nach der nächsten, als wenn jemand einen Stein in hintereinander aufgebaute Glasscheiben wirft. Alles war weg und zurück blieb eine leere Hülle mit viel unbebauten Land auf dem ein kleines Pflänzchen wuchs. Es hatte noch keine tiefen Wurzeln und es stand Gefahr das der kleinste Regenschauer es ertränkt, aber das Pflänzchen überlebte und wurde stärker. Gestern bin ich aufgemacht und dachte als erstes: Mir geht es gut! Alles ging leicht von der Hand und selbst Störungen von Außen rissen mich nicht aus dem Fluss. 10582 Zeichen habe ich gestern geschafft. Das Weltentor wird.
    By the way, ich habe das Buch von Dr. Desikachar aus der Bücherei bekommen. Werde ich heute mit anfangen.
    Ich wünsche dir das es bald besser geht.
    Übrigens zu diesen Test in den von dir genannten Zeitschriften: Demnach habe ich den 1. Preis des Asperberger Autismuswettbewerb gewonnen. War richtig froh endlich eine Erklärung für so vieles zu haben. Eine befreundete Neurologin wollte sich kaputtlachen, als sie von meinem Testdiagnosenergebnis erfuhr. Sie meinte nur: Nie im Leben! Soviel dazu.
    Also vielleicht nicht wegen Burn out den Arzt aufsuchen, sondern gucken das du dir einen Zitronen-Ingwer-Tee machst und die Beine beim Schreiben hochlegst.
    Alles Liebe Karin

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