Verschoben

Nein. Ich habe euch nicht vergessen. Ich bin nur neun Stunden später dran. Und diese neun Stunden, ich schwöre es, sind genau die, die mir gefehlt haben. Denen ich die ganze Zeit nachgehastet bin, ohne sie je einfangen zu können. Aber jetzt habe ich plötzlich wieder Zeit für alles. Obwohl ich auch hier arbeite, Kolumnen schreibe, einen langen Artikel auf englisch (zugesagt in der Meinung, deutsch sei gefragt), eine Kurzgeschichte, einen Zwischentext… Obwohl ich auch hier ein Netz von manchmal komplizierten Beziehungen habe, obwohl man mich auch hier mitten in der Nacht anruft und um Hilfe bittet. Hier mache ich nicht Ferien, hier ist einfach mein anderes Leben. Doch seltsam, hier scheint alles mühelos in die Tage zu passen, und noch Lücken dazwischen frei zu lassen. Jeden Tag sitze ich in einem anderen Café und bestelle das Gleiche: doppelter Espresso, Himbeer-Scone. Das Schreiben geht hier leichter, vielleicht, weil es nichts Besonderes ist, jeder schreibt und hat schon immer geschrieben.

Hier sitze ich also und schaue auf die Strasse hinaus. Es ist Sonntag Morgen, kurz nach zehn. Der Himmel ist grau, die Luft feucht. Anderswo würde man sagen, es nieselt. Hier heisst das: Nasser Nebel. Ich komme aus einer Yogastunde, trage eine Art Pyjama, ich bin ungeschminkt, verschwitzt, meine Haare… „Great Hear!“, hat die junge Frau an der Kaffeetheke gesagt: „Ich hab noch nie einen grauen Afro gesehen!“ Einen grauen Afro? Egal. Ich sitze am Fenster und schaue hinaus. Ein junges Paar neben den leeren Holztischen und Stühlen auf dem Randstein und teilt sich eine grosse Tasse Kaffee. Gegenüber stellt einer sein Auto direkt unter das absolute Parkverbot. Birjam, der Besitzer des Cafés in dem ich sitze, rennt hinaus und über die Strasse, rennt dem Mann nach, weist ihn auf das Schild hin. Der Mann hört nicht hin, zuckt die Schultern, geht weiter. Birjam kommt wieder herein, schüttelt den Kopf.

„Er wollte mir nicht glauben“, sagt er, in einem verwunderten Ton, beinahe kindlich. Als sei ihm das noch nie passiert. Dass ihm jemand nicht glaubte. Er stellt sich neben mich ans Fenster. Zusammen schauen wir hinaus, wir schauen zu, wie das dreirädrige Parkbussenmobil langsam die Strasse entlang rollt.

„Oh nein“, jammert Birjam. „Ich wusst es doch, ich hab es doch gesagt!“

Eine Politesse steigt aus, stemmt die Arme in die Seite, blickt demonstrativ vom Verbotsschild zum geparkten Wagen. Dann beginnt sie mit aufreizender Langsamkeit eine Busse aufzustellen. Sie gibt dem Fahrer Zeit, sch umzudrehen, über die Schulter zu blicken, „das darf doch jetzt nicht wahr sein!“ zu rufen, und in ungelenkem Laufschritt zurückzuhasten.

„Meinen Sie das jetzt ernst?“, ruft er von Weitem.

„Seh ich aus, als hätte ich einen Sinn für Humor?“, fragt die Politesse zurück und neben mir seufzt Birjam aus tiefstem Herzen auf. Ich habe es doch gesagt, liegt in dem Seufzer, warum hat er mir nicht geglaubt? Aber Birjam sagt jetzt nichts mehr. Dafür bringt er mir noch einen Espresso. Und löse den Blick von der Bühne vor meinem Fenster, senke ihn wieder auf den Bildschirm. „Hey, hallo, hier!“, ruft Nevada. Ich schreibe weiter, wo ich aufgehört habe. Es ist alles so viel einfacher, wenn man neun Stunden mehr hat.

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