Wie-ein-Mensch

Die Geschichte mit der Puppe ist fast fertig. Ich lege sie ein paar Tage zur Seite. Aus dieser allerersten Idee, oder eher dem Samen einer Idee, geboren aus der Wut, aus der Kränkung meiner gerade aktuellen, persönlichen Realität, hat sich wie immer etwas ganz anderes entwickelt. Niemand ausser mir selber würde diese Wurzel noch erkennen unter all dem blauen, kühlen Wuchernden, das aus ihr gewachsen ist. Doch etwas fehlt noch, ich weiss nicht genau was. Ich kann sie auch deshalb noch nicht abgeben, weil ich gerade in San Francisco bin, und die Geschichte explizit im Kanton Aargau spielen soll. Einige geographische Details möchte ich nach meiner Rückkehr noch einmal überprüfen (erst schreiben, dann recherchieren!) Also lege ich sie erst einmal zur Seite. Ich nehme mir einen Tag frei und fahre in den Park. Es ist einer der seltenen sonnigen Sommertage hier. „Wir geniessen den Sommer im September, wenn die Touristen abgereist sind und die Kinder wieder zur Schule müssen“, lachte mich neulich eine Freundin an, „dann legen wir uns an den menschenleeren Strand und lesen billige Klatschmagazine!“ Nur um mich gleich erschrocken anzuschauen: „So sorry, ich habe ganz vergessen – du bist ja jetzt auch eine Touristin!“

Und wenn schon, denke ich, als ich in den Park fahre und wie von Zauberhand geführt auf Anhieb die richtige Einfahrt finde. Ich will die Jean-Paul-Gautier-Ausstellung im De Young Museum besuchen – und erinnere mich einen Moment lang wehmütig, nostalgisch an die Zeit, in der dieses Museum geplant, gebaut und eröffnet wurde, nicht ohne Kontroverse. Und wie ich in einem seltenen Aufflackern von Nationalstolz in vielen Diskussionen die Schweizer Architekten verteidigte. Ich liebe diesen Bau, und besuche ihn auch wenn mich keine Ausstellung interessiert, nur um vom Turm auf die Stadt hinunter zu schauen. Und im Café einen perfekten Chocolate-Cheesecake zu essen. Den Kindern zuzuschauen, die auf den Skulpturen im Garten herumklettern.

Ich besuche Jean-Paul Gautier, der erstaunlich lebensecht durch seine eigene Ausstellung führt. Auf die Gesichter der Puppen, die seine Entwürfe tragen, wurden sprechende, blinzelnde, lächelnde Gesichter projiziert, es wirkt erstaunlich echt. „Ca va?“, fragt mich ein Matrose, den ich gerade eingehend studiere und ich stolpere erschreckt zurück. Puppen. Lebensecht. Als bräuchte ich noch einen Beweis dafür, dass meine Geschichte noch nicht fertig ist, verfolgt sie mich durch meinen freien Tag, sie bleibt mir auf den Fersen.

„Ich entwerfe Kleider für eine ganz bestimme Art von Frauen“, sagt die Gautier-Puppe mit charmantem Akzent. „Unabhängige, freie, emotionale und verletzbare Frauen. Diese Verletzbarkeit ist es gerade, die sie stark macht…“ Klingt gut, denke ich, aber warum habe ich dann kein Gautier-Kleid? Oder wenigstens einen Federschmuck?

Dass ich auf dem Weg zum Café an der Sammlung amerikanischer Kunst vorbeikomme, unwiderstehlich angezogen von den Inuit, die mich vorher noch nie weiter interessiert haben, und dann vor einer seltsamen Skulptur stehen bleibe, einem grauen Steinmann mit groben Zähnen und Hörnern auf dem  Kopf, der mir frech zublinzelt, und dass ich dann in der Beschreibung lese, was das ist, ein Inukshuk, ein „Wie-ein-Mensch“ – wundert mich das auch nicht mehr.

Die Inuit haben diese Steinmannli gebaut, um Wege zu markieren oder Karibus in die Falle zu locken, aber auch, um ihren Wohnort zu markieren. Wenn sie fortzogen, auf die Jagd, auf die Wanderschaft, blieb ein Inukshuk zurück, an ihrer Stelle, an ihrer Statt.

Später sitze ich an dem Metalltisch auf der Terrasse, schiebe den Teller mit dem halbgegessenen Kuchen zur Seite und ziehe ein Heft aus der Tasche. Wie-ein-Mensch, schreibe ich. Der neue Titel der Geschichte, die ich jetzt noch einmal neu schreibe, nicht ganz anders, mit nur einer feinen Schicht weniger – oder mehr. Lesen könnt ihr sie dann Anfang nächsten Jahres in der Anthologie „Mord in Switzerland“.

Frei nehmen werde ich mir dann morgen. Oder auch nicht.

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