Be kind, rewind!

imagesDas wahre Leben findet unterwegs statt. Die Lesereise hat begonnen und zwar gleich mit einem Marathon: Davos-Chur-Gstaad. Es war anstrengend, aber schön. In Gstaad hatte ich gleich zwei Lesungen, nachmittags vor drei Schulklassen, abends eine „normale“ Lesung. Vor Erwachsenen. Mit anderen Autoren. Die Abendlesung „gilt“ mehr, sie ist prestigiöser, weniger anstrengend. Das Publikum besucht sie freiwillig und ist meist wohlgesinnter. Mir allerdings machte die Schullesung mehr Spass. Gerade, weil sie eine grössere Herausforderung darstellt. Und ich stelle mich ihr: Die Schülerinnen sollen sich nicht langweilen, ist mein Ziel. Sie sollen diese ein, zwei Stunden nicht als verlorene Lebenszeit abhaken, wie sie es im Schulalltag oft tun. Es ist nicht mein Ehrgeiz, sie alle zu Schriftstellern zu machen, obwohl das einmal passiert ist. Ein Student der HSG schmiss das Wirtschaftsstudium hin, zog nach San Francisco, schrieb ein Buch. Allerdings war mein Besuch in seiner Klasse nur der Auslöser, nicht der Grund für diesen radikalen Schritt. Da bild ich mir nichts ein. Ich fühl mich noch nicht einmal schuldig.

Ich mag es, vor jungen Menschen aufzutreten, weil sie vollkommen unbestechlich sind. Sie können grausam sein. Den geringsten Versuch, sich bei ihnen anzubiedern, wittern sie sofort und schmettern ihn gnadenlos ab. Auf absolute Unverstelltheit hingegen reagieren sie freundlich, beinahe erleichtert. Es ist eine Mutprobe, jedes Mal. Man muss ihnen die Kehle zeigen, zum Biss freigeben, schutzlos sein. Egal, wie man sich fühlt.

Ich las am Nachmittag dieselben Stellen aus dem Buch vor wie am Abend. Als Erika im Kindergarten ihren Namen nennen muss und ihn nicht weiss, als sie aus Verweiflung „nichts“ sagt, „niit!“ und von da an „Niiteli“ gerufen wird, seufzten die Mädchen vor Mitleid laut. Die Jungs hingegen lachten wissend, als Dante schon eine halbe Stunde vor seinem ersten Date mit Nevada am Tisch sass, und weil ihm sein Tumor die Fähigkeit, sich cool zu geben, genommen hatte, einfach sagte: „Ich bin schon da, ich konnte nicht warten.“

Das erwachsene Publikum am Abend hielt sich still. Es stellte auch keine Fragen. Fragen wie „Können Sie überhaupt noch schlafen, Frau Moser?“ Oder: „Wie lebt man mit diesen Geschichten im Kopf?“ Fragen, auf die ich so schnell keine Antwort weiss. Gute Fragen.

Ich unterbreche die Lesung aus dem Buch jeweils mit Ausschnitten aus dem Blog. Ursula sei Dank konnte ich den ganzen Blog ausdrucken und noch einmal selber lesen. Die Lektüre hat mich schockiert. Nicht, was ich über das Schreiben schreibe, nein. Aber dieser endlose Reigen von Krankheit und Erschöpfung und Krankheit und Erschöpfung! Dieses trotzige Auflisten meiner Aufträge: Noch fünf Kolumnen, zwei Radiogeschichten etc…. Ich möchte mich schütteln, wie ich meine Figur Erika schütteln wollte: „Hör bloss auf mit dem Gejammer!“, möchte ich mich anfahren. „Dann leg halt den Bleistift hin! Geh mal raus an die frische Luft!“ Das Leben sollte nicht so anstrengend sein. Das hab ich selber geschrieben. Das steht im Buch.

Der Blog beginnt und er endet mit der Beschreibung eines Zustandes, den ich nicht mag, der noch schlimmer ist als Getriebene, das Aufreibende des Schreibprozesses. Es ist das lödelige Gefühl, zwischen zwei Büchern im Nichts zu hängen. Und so fange ich wieder an. Diesmal ist es keine Romanfigur, die sich mir aufdrängt, es bin ich. Ich habe ein autobiographisches Stück angefangen, ein Essay, eine Art Reisebericht, der sich nur äusserlich den Stationen meines Road-und-Schienentrips entlanghangelt, der in Wirklichkeit nach innen führt. Sehr tief nach innen. Ich habe Angst davor. Aber ich kann nicht anders. Ich weiss genau, wie ich es machen muss: Wie wenn ich vor einer Schulklasse stehe. Absolut offen, absolut ungeschützt.

Und ich muss freundlicher mit mir umgehen. Das auch. Das unbedingt. Auch ich could use a little mercy now.

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Leser-Interaktionen

4 Kommentare

Kommentare

  1. Regula Horlacher meint

    @Milena:
    Ja – da gibt es wohl nicht viel dazu zu sagen –
    Ich habe deine Inputs nie als Gejammer empfunden. Sie haben mir geholfen, eines der schwierigsten Jahre meines Lebens einigermassen heil zu überstehen.
    Ich kann nicht einfach ins Blaue hinausschreiben. Ich brauche ein Gegenüber, das mir ab und zu in irgendeiner Form zu verstehen gibt: Ich höre dich, ich bin da.
    Dank der Impulse, die ich durch den Chor, der an diesem Blog beteiligten Stimmen, bekam, konnte ich schreiben. Ob ich das ohne sie auch geschafft hätte, weiss ich nicht. Ich musste diese Erfahrung zum Glück nicht machen.
    Aber vorstellen kann ich es mir nicht.
    Liebe Grüsse
    Regula

  2. Jutta meint

    Merci – für einen wunderbaren Blogbeitrag von einer, die auch immer wieder völlig ungeschützt ihre Kehle hinhält und schon ein paar Mal nur sehr knapp dem tödlichen Biss entkommen ist.

    Liebe Grüße
    Jutta

    • Milena Moser meint

      @ Gregor: Danke! Lödelig – weiss nicht ob du das in einem Wörterbuch findest – lödelig sitzt zum Beispiel ein zu oft gewaschenes T-Shirt oder alte Haut, ausgeleiert, unverankert, flatterig…. irgendwie so. Habe ich dieses Wort erfunden?

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